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Parenthese

Die Deutschen haben noch eine Art von Parenthese, die sie bilden, indem sie ein Verb in zwei Teile spalten und die eine Hälfte an den Anfang eines spannenden Absatzes stellen und die andere Hälfte an das Ende. Kann sich jemand etwas Verwirrenderes vorstellen? Diese Dinger werden "trennbare Verben" genannt. Die deutsche Grammatik ist übersät von trennbaren Verben wie von den Blasen eines Ausschlags; und je weiter die zwei Teile auseinandergerissen sind, desto zufriedener ist der Urheber des Verbrechens mit seinem Werk. Ein beliebtes Verb ist "reiste ab". Hier folgt ein Beispiel, das ich aus einem Roman herausgepickt und ins Englische übertragen habe:

Da die Koffer nun gepackt waren, REISTE er, nachdem er seine Mutter und Schwestern geküßt und noch einmal sein angebetetes Gretchen an den Busen gedrückt hatte, die, in schlichten weißen Musselin gekleidet, mit einer einzigen Tuberose in den weiten Wellen ihres üppigen braunen Haares, kraftlos die Stufen herabgewankt war, noch bleich von der Angst und Aufregung des vergangenen Abends, aber voller Sehnsucht, ihren armen, schmerzenden Kopf noch einmal an die Brust dessen zu legen, den sie inniger liebte als ihr Leben, AB.“

Mark Twain

 

Aus: The Awful German Language; Die schreckliche deutsche Sprache.

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Nichts ist ewig. / Dem Drang nach Freiheit folgt / Die Sucht nach Harmonie folgt / Die Sucht nach Behütung folgt / Das Zugeständnis folgt / Die Explosion der Wut mit / Dem Drang nach Freiheit. / Das ist ewig. (jfw lotsch)

Gottlob! durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.

          (Heinrich Heine)

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WO SIND ALL DIE MÄNNER HIN

Fado, Lisboa 2017 (von jfw lotsch)

Wo sind all die Männer hin / Wo sind sie geblieben / Wo sind all die Männer hin / Im Meer sind sie verschieden / Mit Tod und Teufel haben sie gerungen / Die See hat sie verschlungen / Mit Tod und Teufel haben sie gerungen / Die See hat sie verschlungen / Mit Tod und Teufel haben sie gerungen / Die See hat sie verschlu-hun-gen.

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BÜCHER MACHEN - EIN KINDERSPIEL

Wie Bücher fast von selbst entstehen (von jfw lotsch)

Das Büchermachen ist eine angenehme Tätigkeit.

Der Verleger sitzt an seinem gediegenen Schreibtisch aus dem Wurzelholz der feinsten Nussbäume und raucht eine dicke Zigarre. Es klopft zaghaft an der Tür. Die Sekretärin mit dem straff zurückgekämmten und zu einem Knoten gebundenen Haar betritt den Raum, ein dickes, sauber broschiertes Manuskript in Händen.

„Das neue Buch von Günther Blass, Herr Direktor. Ich habe es bereits durchgesehen. Es ist so gut wie druckfertig. Praktisch fehlerfrei. Darf ich es gleich bei der Druckerei avisieren? Da machen wir doch wieder 100 000 Startauflage, nicht wahr?“

Der Verleger hebt den Blick, nimmt mit einer unglaublich eleganten Handbewegung die Zigarre aus dem Mund, sieht über den Rand seiner Lesebrille — und lässt das Heft von Worldwide Travels sinken.

Seine Augen folgen ihren langen, schlanken Beinen aufwärts, verharren kurz am Saum des Minirocks, wandern über den flachen Bauch zu den wohlgeformten Brüsten, die von einer roten Seidenbluse kaum verborgen sind. Ihr engelhaftes Gesicht stellt er sich mit offenem Haar vor. Mit halb geöffneten Lippen liegt sie im Schatten einer Palme, umweht von der warmen Meeresbrise, — ihn erwartend.

Im Büro siezt er seine Sekretärin. „Ja, Angela — sehr gut. Veranlassen Sie alles Nötige. — Und, sehen Sie mal, dieser Flug. Bestellen Sie uns doch gleich die Tickets.“

„Ja, Herr Direktor, sehr gern,“ haucht Angela.

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Zum Tod von Michael Mannschatz

(7.3.1940 – 15.2.2017)

Liebe Freundinnen! Liebe Freunde! Liebe Gemeinde!

Heute verabschieden wir einen ganz besonderen Menschen, - der uns schon ein paar Schritte voraus ist.

Nach langer Krankheit, die er stoisch ertrug bis er nur noch Haut und Knochen war, verlor er doch nie die Hoffnung. Wenn sein Bauch wieder in Ordnung käme, würde er sich endlich mal die Augen machen lassen, damit er wieder besser lesen könne.

Den meisten Menschen in Schwabing war er ja als der geniale Mechaniker bekannt, der auch noch die letzte Rostlaube wieder zum Laufen brachte. Es konnte zwar zuweilen etwas dauern, aber irgendwie schaffte er es immer das Auto in Gang zu kriegen. Es konnte auch sein, dass nach einer Reparatur diverse Kleinteile übrig blieben, aber die waren unwichtig. Wichtig war das Essentielle. Das Ergebnis. Es geht. Ein Sieg.

Aber der Micha war nicht nur Mechaniker. Er interessierte sich sehr für Politik und Kunst. Darum wollte er auch wieder besser lesen können. Er hatte einige Semester Kunstgeschichte studiert. Und auf der Leopoldstraße eigene Gemälde verkauft. Ich habe ein Bild von ihm, das er mir anlässlich einer Geburtstagsfeier schenkte. Er sagte lapidar: Ich hab dir ein paar Blumen mitgebracht, nur die Vase hat ein Loch. Es war ein Gemälde. Acryl auf Leinwand im Keilrahmen. Blumen in einer Vase. Tatsächlich war in Höhe der Vase ein Riss in der Leinwand. Aber wieder war nur das Ergebnis wichtig. Die Geste.

Einmal bin ich auf der Rückreise von Spanien, in den 1970ern, mit meinem VW-Käfer in der Schweiz liegen geblieben. Motorschaden. Mit meiner damaligen Frau fand ich bei einer alten Bekannten, die ich aus der Sieben kannte, und die in Aarau lebte, Unterschlupf. Sie hatte ein Gästezimmer und wir waren sofort willkommen. Von ihrem Telefon aus versuchte ich in München Ersatz zu bekommen, um das Auto zu reparieren. Es war alles sehr umständlich. Mobiltelefone gab es noch nicht.

Ein paar Tage später, es war Sonntag Morgen, saßen wir beim Frühstück. In Aarau. In der Schweiz. Es klingelte an der Tür.

Der Micha kam herein, mit einer großen Tüte frischer Brötchen im Arm.

Ja sowas, wie kommst denn du hier her?

Och, das war so auf dem Weg, sagte er.

Und er redete ja nie zu viel. Wie wir alle wissen. Dann frühstückten wir gemeinsam. Die Ellen brachte Kaffee und Tee. Und wir plauderten so über dies und das.

Nach einiger Zeit blickte mich der Micha direkt an und fragte: Brauchst du einen Käfermotor? - Äh - ja, sagte ich. Ich habe zufällig einen im Kofferraum, meinte er.

Mein Problem hatte sich in Schwabing herumgesprochen.

Ja, und nach dem Frühstück haben wir den Motor umgebaut. Kaputten Motor raus, neuen Motor rein. Die Hauptarbeit hat der Micha gemacht. Ich habe nur assistiert. Das hat vielleicht drei Stunden gedauert. Dann konnten wir nach München fahren.

Und das war aber auch typisch für ihn. Er hat immer irgendwie, irgendwo geholfen. Aber er hatte Schwierigkeiten Geld zu verlangen. Oft hat er nur für die Materialkosten gearbeitet – und für gutes Karma. Und so blieb er bis zum Schluss, was man ja sonst von der Hauptstadt sagt - arm aber sexy.

Außer für Sex interessierte er sich auch sehr für das Schachspiel. Wir haben ja auch einige Zeit zusammen gewohnt, und wir haben viele Partien Schach gespielt. Ich habe gekocht. Für die Familie und für ihn. Er hatte inzwischen eine Partie von irgendeinem weltbesten Schachmeister nachgespielt. Und nach dem Essen haben wir gespielt. Und dann hat er gewonnen. Schon wieder ein Sieg.

Er brauchte nie viel. War immer sehr bescheiden. Redete meist nicht mehr als nötig. Als wir in Venezuela unseren Freund Bruno besuchten, sagten die Einheimischen von Micha: El Flaco que no habla. Der Dünne, der nicht spricht. Aber wenn es irgendwo haperte, wenn an einem Haus, einem Zaun oder einem Auto etwas zu richten war, dann machte er es einfach. Er konnte es. Und so sammelte er kleine Siege - statt Geld.

Und so war er auch in Schwabing. Ein Helfer in den unmöglichsten Situationen. Aber Geld war ihm nicht wichtig. Seine kleinen Siege und sein Stolz waren ihm wichtig. So hat er zum Schluss Palliativmedizin und Hospizpflege abgelehnt. Er hat sich stolz dem Tod gestellt. - Diesmal hat der Tod gesiegt.

 

Ruhe in Frieden, Micha. Wir denken an dich.

(jfw lotsch)

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Vier Rosen für Jörg

 

Heute wäre Jörg Fauser 70 Jahre alt geworden. Immer wenn ich an ihn denke, fällt mir ein, wie wir im Keller saßen und Worte sowie Wörter tauschten.

Wir kannten uns aus der Schwabinger Sieben. Das war eine Kneipe, die in einer Art Baracke untergebracht und vorwiegend von Künstlern und Studenten frequentiert war. Damals in der Feilitzschstraße 7. Von einem im Krieg zerbombten Haus, waren nur die Grundmauern stehen geblieben, über die dann Balken gelegt und mit einem Blechdach bedeckt wurden. Die Wände waren schwarz angestrichen. Ein paar Objekte, die von Künstlern anstelle der Bezahlung ihrer Zeche hinterlassen wurden, zierten sie. Licht gab es nur von Kerzen, die auf Schnapsflaschen gesteckt waren. Und Jazz und Rock.

Wir lernten uns durch Manila, den Wirt, der eigentlich Gerd heißt, es aber mehrmals bis Manila geschafft hatte, kennen. Man buchte damals keine Reisen, um Orte fremder Länder zu besichtigen, sondern man war Traveller. Man kam an Orte, oft auch fremder Länder, weil einen das Leben dort hingeworfen hatte. Ich zum Beispiel, überführte als Student Autos von München nach Beirut oder nach Teheran. Man bekam hundert Dollar dafür. Das entsprach damals vierhundert Mark und war nicht viel, aber genug um als Kapital für den Landweg nach Indien zu dienen. Auf dem Rückweg fuhr man meist per Anhalter, und wenn es nicht anders ging auch mal mit Bahn oder Bus. Und zur Übernachtung suchte man sich die billigsten Quartiere. So geriet ich einmal in das Gülhane Oteli in Istanbul, ein Hotel einfachster Kategorie. Man musste gut auf seine Sachen aufpassen, aber dafür gab es Dope jeder Sorte.

Und in der Sieben gab man seine Abenteuer zum besten. Und als irgendwann die Rede vom Gülhane war, das viele kannten, weil es zwar eines der übelsten, aber auch eines der billigsten Hotels zwischen München und Manila war, sagte der Jörg: "Da war ich Hausmeister."

Und ja, wenn man den Jörg so vor sich hatte, mit seinen dunklen, fast schwarzen Haaren, deren Fransen in die Stirn hingen, sah er aus wie Wallraff als Türke Ali. Aber der Jörg war kein Schwätzer. Er war die Contenance in Person. Die interessantesten Geschichten erfuhr man erstmal höchstens als Nebensatz und auch auf Nachfrage nur zögernd.

In den Siebzigern wohnte der Jörg als Untermieter beim Tom, der angeblich an einem Roman arbeitete, in der Agnesstraße. Nachdem ich mal wieder meiner Zeit voraus gewesen war, musste ich meinen Führerschein vorübergehend abgeben. Und weil ich auf dem Land lebte, sagte der Tom, er habe noch eine Kammer, die zwar sehr winzig sei, aber es sei eine Matratze darin. Da könne ich wohnen, wenn ich in der Stadt sei. Nur am Wochenende müsse ich mir etwas einfallen lassen, weil dann ein Mädel die Matratze bewohne. Eines Tages lernte ich übrigens dieses Mädel in der Sieben kennen, wo wir per Zufall herausbekamen, dass wir Bewohner der selben Matratze waren. Wir waren dann fünfzehn Jahre zusammen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls lebte der Jörg dort in der Agnesstraße. Er arbeitete zu jener Zeit an einer James-Dean-Biographie als Auftragsarbeit und an einem Buch, das später unter dem Titel Der Schneemann erscheinen sollte. Die Wohnung befand sich im Souterrain. Man musste um das Haus herum zur Hintertür und die Kellertreppe hinab gehen. Rechter Hand befand sich die Waschküche des Hauses und linker Hand Toms Wohnung, zu der eine nicht abschließbare Tür in eine kleine Diele führte. An der gegenüber liegenden Wand stand ein Tisch und drei Stühle. Auf dem Tisch stand eine Flasche Four Roses. Links wohnte Fauser, rechts der Tom, und ganz links führte eine schmalere Tür zu der bewussten Kammer. Wenn die Türen geschlossen waren, durfte unter keinen Umständen gestört werden. Wenn die Türen offen oder nur angelehnt waren, konnte man anklopfen, und eventuell setzten wir uns an den Tisch, um ein beim nahe gelegenen Markt beschafftes Frühstück zu verzehren oder einfach eine Tasse Tee zu trinken und sich gegenseitig vom Stand der Dinge zu berichten. Die Fenster waren kleine Luken an der Oberkante der Zimmer. Wenn jemand daran vorbei ging, konnte man nur die Schuhe sehen. Tom kannte die Schuhe von bestimmten Leuten. Zu Jörg sagte er dann: "Tu den Whiskey weg, der Hufnagel kommt." Dieser Aufforderung folgte Fauser dann schleunigst. Denn nachdem er seine Heroinabhängigkeit der Sechzigerjahre unter Aufbietung eigener Willenskraft abgelegt hatte, gönnte er sich als Ersatz nur noch Four Roses. Da man mit dieser Droge etwas länger leben konnte. Und weil er damit auch die andere Sucht, die Sucht zu schreiben, zelebrieren konnte. Es konnte sein, dass er tagelang seine Tür nicht aufmachte, man ihn nicht stören durfte, aus seinem Zimmer nur das Klappern seiner alten amerikanischen Schreibmaschine zu hören war. Und dann kam es vor, dass der Schreibfluss plötzlich hakte. Das kennt wohl jeder Schreiber. Dass man seitenlange Texte runterrattert, und plötzlich fehlt ein Wort. Oder ein Wort gefällt nicht, scheint unpassend. Da hilft eine Tasse Tee. Oder eben auch mal ein Schluck Four Roses.

Ich saß in der Kammer auf der Matratze, hatte meine Erika, eine leichte Reiseschreibmaschine, dabei und übersetzte für den Heyne Verlag Krimis aus dem Englischen. Wenn mir ein Wort fehlte, oder, wegen der angewinkelten Position, die Beine einzuschlafen drohten, setzte ich mich an den Tisch in der Diele. Wenn auch Fauser gerade eine Pause machte, tauschten wir Worte. Er erzählte aus seinen früheren Jahren im Nahen Osten und auf Malta. Über den Falken kamen wir zu Hammett, oder zu unserer gemeinsamen Bewunderung Chandlers. Er empfahl mir Chester Himes, den ich bis dato noch nicht kannte. Bukowski war gerade im Maro Verlag erstmals auf deutsch erschienen. Und während wir uns literarische Bälle zuspielten, fanden wir oft auch wieder die richtigen Wörter für unsere Texte.

Ende der 1970er Jahre verloren wir uns etwas aus den Augen, als ich eine Familie gründete und er nach Berlin ging. Wenn er nach München kam, trafen wir uns gelegentlich in Schumanns Bar in der Maximilianstraße. Nachdem er als Literat inzwischen etwas bekannter war, hatte Charles ihm einen Tisch reserviert und Fausers geliebten Four Roses auf den Tisch gestellt. Er berichtete von einer Brieffreundin, die von dem Buch Der Schneemann so begeistert war, die er näher kennen gelernt habe. Und Mitte der 1980er Jahre heirateten sie sogar und wohnten im feinen Münchner Stadtteil Bogenhausen.

Auch am 16. Juli 1987, seinem Geburtstag, trafen wir uns auf ein Gläschen bei Charles Schumann. Er wollte noch weiter. Zu einem Etablissement im Münchner Osten, in dem es hoch her gehen solle und er darüber schreiben wolle. Er trug einen hellen Regenmantel, der offen im Wind wehte. Er sah ein bisschen wie Peter Falk aus, der sich im Weggehen nochmal umdreht, um dem Verdächtigen eine überraschende Fangfrage zu stellen. Er ließ sich wohl mit dem Taxi nach Riem bringen. Als er in den Morgenstunden des nächsten Tages zurück wollte, hatte er anscheinend kein Taxi bekommen. Oder er wollte nicht warten, bis eines käme. Jedenfalls war er dann laut Polizeibericht zu Fuß auf der Autobahn unterwegs gewesen. Vermutlich um ein Auto anzuhalten. Sein Regenmantel verfing sich in einem vorbeifahrenden Lastwagen. Er war sofort tot.

(Jörg Fauser 16. Juli 1944 – 17. Juli 1987)

jfw lotsch

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TEUTSCH FRIO PERO FUERTE

Brief aus Venezuela (von jfw lotsch)

Vor dem Hintergrund unzähliger Vogelstimmen war nur das sonore Brummen der Maschine unseres Geländewagens zu vernehmen. Nachdem wir gleich hinter dem Dorf den Fluss durchquert hatten, tauchten wir ein in die Wälder. Sobald ich die kleinste Unsicherheit zeigte, den Dschungelpfad zu finden, wies Bartolo mit einer kleinen Handbewegung den Weg, oder er nickte und schob anerkennend die Unterlippe vor, wenn ich die richtige Richtung nahm. Versperrten Farnzweige oder Bambusstangen den Weg, hielt ich an, und Bartolo nahm das Buschmesser unter dem Sitz hervor, um die Hindernisse zu beseitigen. Er war heute mit einem weißen Hemd, einer dunkelblauen Hose und weißen Schuhen bekleidet, wobei er letztere jeweils im Wagen zurückließ, wenn er ausstieg, auf dass sie nicht beschmutzt würden. Der sich nach oben schlängelnde Weg war nass und glitschig.

Am Vorabend hatte ich mit Bartolo und einigen wenigen weiteren Bewohnern des karibischen Küstendorfes zu einem Schlummertrunk zusammengesessen, als sich der Sandplatz vor meinem Haus unvermittelt belebte. Lachend und Begrüßungsformeln ausrufend hatten sie ihre aus ausgehöhlten Baumstämmen bestehenden und mit Ziegenfell bespannten Trommeln, ihre Tambores, herbeigeschleppt und zu musizieren begonnen. Die Frau, die ich kürzlich zur Klinik in die Stadt mitgenommen hatte, war Mutter geworden. Er sei gesund und braun wie er, hatte der stolze Vater mit wirbelnden Händen trommelnd in seinem Gesang vermeldet. Und morgen würde man eine Fiesta machen und vielleicht Sancocho, eine Art Eintopf, der aus den verschiedensten Frucht- und Gemüsearten sowie Kuhfüßen, Pansen, Schnecken, Schweineschwänzen und anderen feinen Zutaten mehr besteht.

Inzwischen hatten Bartolo und ich den Wolkenwald auf etwa tausend Metern Höhe hinter uns gelassen, wo ich mich gefühlt hatte wie in einer Waschküche der Gründerzeit, auf der Asphaltstraße weitere fünfhundert Höhenmeter überwunden, um dann die Colonia Tovar zu erreichen, jene deutsche Kolonie, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von des Grafen Tovars Gnaden und mit Hilfe der Auswanderer aus der Umgebung des Kaiserstuhls gegründet und dann vergessen worden war. Dort sollte ich wichtige Informationen für meine Arbeit und Bartolo nicht minder wichtige Zutaten für den Sancocho erhalten.

Stolz, als habe er es erschaffen, wies Bartolo auf das vor uns liegende Hochtal zwischen den Gipfeln der Küstenkordillere. Aus den Kaminen rotgedeckter Fachwerkhäuser kringelten kleine Rauchwölkchen. Sehr kalt hier, meinte mein schwarzer Freund, nur zwanzig Grad, wie in Deutschland. Sicherlich sei es hier kühler als unten an der Küste, versuchte ich zu erklären, im Winter gäbe es auf Deutschlands Straßen jedoch Eis und Schnee. Er sah mich lange an, sagte dann: Eis und Schnee auf der Straße? Muy practico, sehr praktisch, dann habe man immer kaltes Bier.

Vorbei an zweisprachigen Hinweisschildern, die darüber Auskunft geben, wie man mit Abfällen umzugehen habe, dass man diese eben nicht, wie ansonsten in Südamerika, einfach fallen lassen solle, gelangten wir, vorbei an einer Töpferei und einem Ledergeschäft, zum Restaurant Almrausch. Als Bartolo, meine Verwunderung bemerkend, sich erkundigte, was es mit diesem Namen auf sich habe, versuchte ich zu erklären: trunken vom Berg, berauscht von der Kuh. Er lachte – es war misslungen.

Vor dem Gebäude namens Rathaus standen ein paar venezolanische Polizeibeamte in ihren blauen Uniformen. Der Bürgermeister mit seinem runden Kopf, blond und helläugig, die Haut getönt, war nach kurzer Zeit zu sprechen. Bereitwillig gab er Auskunft über Einwohnerzahlen und Einkommensverhältnisse. Man sei durchaus optimistisch. Man habe in der Vergangenheit viel geleistet und werde dies auch künftig tun. Es handele sich hier um eine der wohlhabendsten Kommunen des Landes, aber: no hay atajo sin trabajo – ohne Fleiß kein Preis. Auf die Frage, ob er denn deutschstämmig und der deutschen Sprache mächtig sei, bejahte er dies vehement und sang zum Beweis: Fuchs, du hasch de Gans gestolle, gib se widder herr. Danach fiel er gleich wieder ins Spanische, um zu erläutern, dass sein Freund, der Direktor bei BASF in Caracas sei, gesagt habe, wir hätten jetzt keine Mauer mehr und würden dann sicher noch mehr erreichen, als großes Volk.

Im Restaurant Selva Negra, Schwarzwald, nahm Bartolo die Speisekarte nur pro forma zur Hand. Spornstreichs erläuterte er dem Kellner seine Wünsche, um mir sodann zuzuflüstern, er habe sich schon lange auf dieses Essen gefreut. Ich staunte nicht schlecht, als er kurz darauf eine riesige, dampfende Portion Eisbein mit Sauerkraut erhielt. Meine in Bananenblättern gedünsteten Maisküchlein nahmen sich dagegen sehr bescheiden aus.

Die meisten hätten ihr Deutsch im Laufe der Zeit und über die Generationen hin wohl verlernt, spekulierte ich. Nein, nein, wies er zurück. Und obgleich er nur Spanisch sprach, auch wenn es etwas karibisch gefärbt war, und er mit den Leuten der Colonia in dieser Sprache verkehrte, war er der Meinung, dass sie jedenfalls nicht Spanisch sprächen.

Nachdem wir zum Nachtisch auch noch die obligate Torte Selva Negra verzehrt hatten, strebte Bartolo dem alemannischen Markt zu. Er kaufte fünf Köpfe Weißkohl. Zwischen den sogenannten typisch deutschen Waren wie Kuckucksuhren, Würstchen „tipo Frankfurt“, und „Mi Lucha“ von Adolf Hitler sowie den kunstvoll aus Palmfasern gefertigten Hängematten der Indios hatte er nur Kohl gesucht, jenen, der mit alemannischem Fleiß in den Bergen über dem Wolkenwald, nur fünfzig Kilometer südlich der karibischen Küste, angebaut wird. Er mache den Sancocho herzhaft.

Wir mussten wieder zurück. In zwei Stunden, wenn es dunkel wird, würden wir wieder unten im Dorf sein. Der Sancocho müsse bis Mitternacht kochen.

Als wir die Asphaltstraße, die zur Hauptstadt führt, überquert hatten, fanden wir unseren Dschungelpfad wieder, der steil abfiel. Die Vogelstimmen waren weitgehend verstummt. Mit jedem Meter, den wir an Höhe verloren, wurde es wärmer. Ich warf meine Jacke auf den Rücksitz. Bartolo brach das Schweigen und sagte leise: teutsch frio pero fuerte.  

Anmerkung: Laut Slaby/Grossmann (Wörterbuch der spanischen und deutschen Sprache) bedeutet „frio“: kalt - und „fuerte“: stark, kräftig, heftig, fest, haltbar, dick, dicht, tapfer, wacker, groß, bedeutend, ansehnlich, hart, schwer, mühsam, beleibt, korpulent, breit (Hüfte), starrsinnig, eigenwillig, energisch, standhaft, mutig, widerstandsfähig, dauerhaft, stabil, fest (sitzend) – wie Kohl eben.  

(veröffentlicht 1994 in der Vierteljahreszeitung „Laubacher Feuilleton“ und 1995 in dem im Verlag Christina Schellhase erschienenen Buch „Überall ist Laubach – Berichte vom Nabel der Welt“, zusammengestellt von Detlef Bluemler und illustriert von Nicolai Sarafov) 

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Lieber verhungert

Betroffenheit. Was für ein Wort. Schrecklich. Unser marxistischer Melancholiker hätte vermutlich gesagt: "Gestrichen. Gehört zur Liste der Unwörter. Genauso wie Anliegen. Hat Adorno verboten."

Aber was will man machen, wenn man ein Anliegen hat und einem vor lauter Betroffenheit nichts anderes einfällt, als schlicht Betroffenheit zu verkünden? Rat holen ist nicht (mehr). Adorno ist tot, und Manfred Jander sagt auch nichts mehr. Also: Getroffen?

Auf jeden Fall schlimm. Sehr schlimm. So schlimm, daß unsereins in ein Loch verschwinden möchte, in das gerade mal ein Semikolon hineinpassen würde; er gehörte zu den letzten, die wußten, wo Satzzeichen hingehören. Doch es ist zu bezweifeln, ob diese Scham überhaupt irgendwo verschwinden kann. Vermutlich paßt sie nicht einmal in das Loch dieses gigantischen Ausmaßes, das diese alternden Arbeitslosen in die bundesdeutsche Haushaltskasse gerissen haben.

Nun ist Manfred Jander bereits 2003 gestorben. Aber erst gestern abend (20. Oktober 2007) hat unsereins die Nachricht von seinem Tod mitgeteilt bekommen. Deshalb und der Gründe seines sogenannten Ablebens wegen machen wir ihn und unser schlechtes Gewissen hier(mit) öffentlich.

Manfred Jander (maj) gehörte von Beginn an zum harten Kern des Laubacher Feuilleton, diesem «Eiland im Meer des Mangels» (Süddeutsche Zeitung), war der immer kritische, aber kraft seiner Duldsamkeit auch moderierende «Geist einer kauzigen, wohl auch ein wenig elitären Gelehrtenrepublik […]: eine Festung gegen den Unrat der Mediengesellschaft» (Zürcher Tagesanzeiger). Er war der politisch(st)e Kopf dieser feuilletonistischen Hydra «mit Biß und Witz, Lust und Anklage über die Jahrhunderte oder Jahrzehnte hinweg mitten in unsere Gegenwart» (Basler Zeitung). Er war bibelfester als der Papst. Hätte Karl Marx nicht mehr gewußt, wo er was geschrieben hatte, Manfred Jander hätte ihm sagen können, an welcher Textstelle eine leichte Müdigkeit über ihn kam oder er elektrisiert war, wenn es darum ging, für ein menschlicheres Dasein zu kämpfen. Das hat er getan, bis zum wahrlich bitteren Ende: kämpfen. Nicht Marx. Jander. Keinen Menschen hat unsereins kennengelernt, der so sattelfest jeden Kritiker der marxschen Theorie widerlegt hätte. Die klappentextgebildeten Daherplappernden hat er, der nicht einmal über außerordentliche rhetorische Fähigkeiten verfügt hatte, kraft seines Wissens rasch demaskiert. Und Jander hat ihn gelebt, den Sozialismus. Weil er sie geliebt hat, die Vorstellung, eines Tages könnte es doch noch zu einem besseren Leben für alle reichen.

Manfred Jander stammte aus dem Remstal, in der Nähe von Stuttgart. Dorthin ist er jeden frühen Morgen zu seiner Lehre als Schriftsetzer gefahren. Das war eine Zeit, in der einer, der die Schrift setzen wollte, die Sprache im besten Wortsinn im Griff hatte. Mehr: Er hat auch darüber nachgedacht. Das wurde immer wieder deutlich, als unsereins mit ihm als Korrektor zu tun hatte. So manches Mal machte er auf Fehler aufmerksam, über die manch einer nicht einmal leicht ins Stolpern geraten wäre. Und als es darum ging, 1991, quasi zwischen Weihnachten und Neujahr, den weit über vierhundert Seiten dicken US-amerikanischen Katalog Entartete Kunst für das Berliner Deutsche Historische Museum in hiesiges Geschichtsverständnis zu übersetzen, hat Manfred Jander sehr oft auch ein paar der Fakten geraderücken müssen, mit denen unsere amerikanischen Freunde sich einfach nicht anfreunden wollen. Nach seiner Lehre hatte unser Hauskorrektor über den zweiten Bildungsweg den universitären der Historie und Soziologie beschritten. Auch hier saß er eben fest im Sattel.

Was lag für einen, der sich den Aufstieg vom Arbeiterkind auf den akademischen Olymp hart erarbeitet hatte und dem so sehr am Menschsein gelegen war, näher, als anderen ebendiesen Weg zu ebnen? Zu einer Zeit, als die Gewerkschaften noch so verzettelt waren wie die deutschen Lande zu Zeiten Hugo von Hoffmannstals — der deshalb ein Lied der Deutschen schrieb, das die Einigkeit und das Recht und die Freiheit in einem deutschen Vaterland herbeisingen sollte —, als die Arbeitnehmer-Vertretungen also die Gemeinsamkeit anstrebten, bildete Manfred Jander beim Deutschen Gewerkschaftsbund Erwachsene aus.

 

Diese Vereinigung für die Rechte der Arbeitnehmer hatte ihm dann den Arbeitsplatz genommen, indem sie aus sogenannten Einsparungsgründen die Stelle strich. Danach schickte ihn das Arbeitsamt in Schulungen, auf daß er das lerne, was er über zwanzig Jahre lang gelehrt hatte. Zwar lehrte er seine Lehrer rasch, was die ihn lehren sollten, doch Arbeit wollte ihm trotzdem niemand mehr geben. Zu alt, nicht mehr vermittelbar.

Nachdem das
Laubacher Feuilleton 1996 nach zwanzig Ausgaben eingestellt worden war (da der Tag nunmal nicht mehr als achtundvierzig Stunden hat) und die wöchentlichen Blauen Redaktionsstunden, zuletzt im Cocorico in der Münchner Schellingstraße, abgelaufen waren, zerstreute sich die Kernbelegschaft in alle Richtungen: die einen in die Hansestadt nach Norden, die anderen in deren Schwesterstadt tief unten im Süden. Doch Manfred Jander hatte ohnehin schon zuvor seine eigenen Ruheplätze. Doch selbst die Rheinpfalz in der Kurfürstenstraße besuchte er immer seltener. Der Weg von seiner Wohnung in der Belgradstraße dorthin ließ sich mit Krücken schlecht an. Also taperte er lieber die paar Meter zu der Kneipe, die ihm ohnehin eine Art Wohnzimmer war, ins Zum Zum am Kurfürstenplatz. Dort bekam er nicht nur seine Halbe oder auch drei. Auch brachte man ihm dort die Zuneigung und Wärme entgegen, die ihm gebührte. Und die wir versäumt haben.

Versäumt. Welch Wort. Nun gut, unsereins hatte ihn nochmal getroffen. Nicht im
Zum Zum. Das hatte man dichtgemacht; es war nicht mehr profitabel, und so ein paar Herumhänger, die am Monatsende ihre Stütze am Tresen ablieferten, um die Tankrechnung zu bezahlen, werfen nunmal nicht genug ab und verhäßlichen der Jeunesse vis-à-vis das Blickfeld. Schräg gegenüber hatte man sich mittlerweile seiner angenommen. Dort erzählte dann der eine von seiner sonnigen, südlichen Heimat und seiner neuen Familie, und der andere lächelte dazu mit traurigen Augen, in denen sich bereits das Graue(n) des verlorenen Kampfes spiegelte. Der eine versuchte später noch ein paarmal, den anderen zu erreichen. Aber ans Telephon ging der nicht mehr.

Das konnte er auch nicht. Denn Tote telephonieren nicht. Gestern nun las ersterer zufällig in einem Impressum, quasi als letzte Ehrung: «Manfred Jander (1940 – 2003)». Die Antwort von Joachim F. W. Lotsch auf die Anfrage lautete: «Er starb im Kampf. Im Kampf um sein Recht auf Selbstbestimmung und Menschenwürde. Im Kampf gegen die Behörden, die ihm Sozialleistungen nur gewähren wollten, wenn er seine kleine Eigentumswohnung verkaufen würde. Da ist er lieber verhungert.»

Und da er nicht mehr widersprechen kann, schreibt ganz leise: Betroffenheit

dbm

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DER TOM UND DIE STEINSUPPE

von JFW LOTSCH

Der Tom saß mit einigen Leuten auf einer Bank an der Sonnenseite vom Wintergarten beim Markt in Schwabing und sie redeten über die bevorstehenden Wahlen in Hessen, über Macht und Ohnmacht, Recht und Gerechtigkeit. Das Recht bestehe doch einfach aus Spielregeln, die von Menschen gemacht werden, murmelte der Tom, und Gerechtigkeit sei nur eine Fiktion. Man könne bestenfalls versuchen, eine Mehrheit für einen Konsens zu gewinnen, um gemeinsam etwas Brauchbares zu generieren.

Auf einmal wurde ihm das unqualifizierte Gerede der Leute zu dumm, und er erhob sich, schnippte seine Kippe mit Krümeln der letzten Ernte weg und sagte: "Mir ist jetzt nach Steinsuppe.”

Den Anderen blieb der Mund offen stehen. Steinsuppe? ... Tom schob die Unterlippe vor, senkte den Kopf, dass seine von Silberfäden durchzogenen schwarzen Locken in die Stirn fielen und sagte mit dem Ernst des ehemaligen Juristen: „Na klar. Steinsuppe. Köstliche Sache.“

Vom Taxistand an der Ecke war gerade der Nick herübergekommen und griente: „Was hab ich da eben gehört? Steinsuppe? Machst du Witze?“

Zeus lachte laut auf. „In Oberhausen hamse natürlich keene Steinsuppe...“ Nick machte eine Kopfbewegung, die zur Folge hatte, dass seine zwar schon etwas dünner werdenden, aber doch zumindest zur Brust reichenden Haare rückwärts über die Schulter schlenkerten. Er müsse gerade reden. Als Zugereister und Restphysiker ne große Lippe zu riskieren. Ob er denn wisse, was es mit der Steinsuppe auf sich habe.

Zuagroaster heißt das hier, warf Wolfi ein. Sein Akzent roch deutlich nach Nordsee. Die Einheimischen beschränkten sich weitestgehend auf das Marktpersonal.

„Nee.“ Zeus ließ sich, wie immer, in seinem Redefluss nicht beirren. „Aber wenn der Tom Steinsuppe sagt, dann gibt’s eben Steinsuppe. Letztes Jahr war´s Alpenglühen. Jetzt gibt’s vielleicht Steinsuppe, wat wees denn ick.“

Um Toms rechten Mundwinkel bildete sich jene kleine Falte, die in einem Grübchen mündete und schon viele Frauen schwach werden ließ. Gewisse Damen schwärmten noch ein halbes Jahrhundert später davon. Und dann war er natürlich schon immer die Contenance in Person. Nein, mit dem Alpenglühen habe das jetzt nichts zu tun. Man brauche einen großen Topf mit Wasser, den müsse man aufs Feuer setzen. Bedächtig griff er in seine rechte Jackentasche und brachte einen flachen, etwa handtellergroßen, weißen Kieselstein zum Vorschein. Und diesen Stein werde er in die Suppe legen, seinen Suppenstein, das gebe eine vorzügliche Suppe.

Ungläubiges Gemurmel... Vom Nachbartisch ein verlegener Lacher, der auf Unkenntnis schließen ließ.

Man könne ja rüber gehen zur Rheinpfalz, vielleicht würde die Barbara einen Topf zur Verfügung stellen, dann werde er es gerne vorführen.

Tom erhob sich, blinzelte in die untergehende Sonne, überquerte die Fahrbahn, bog beim Theater um die Ecke, erreichte nach hundert Metern die Kneipe. Die Tür stand offen. Es roch nach Asche, kaltem Bierdunst und Reinigungsmitteln. Klaus begrüßte ihn mit seinem Mick-Jagger-Grinsen. „So früh schon, Tom.“ Und dann verteilte er Aschenbecher und kleine Kerzenständer auf den zehn Tischen des Lokals. Seine rechte Hand zitterte, als er Kerzen in die gläsernen Halter presste.

Hans war noch grau unter dem schütteren Blondhaar. Nach Mitternacht würde er ganz anders aussehen, lebhaft sein, rotbackig bis zum Morgen mit seinen Gästen diskutieren, vielleicht ein Stückchen auf der Trompete spielen, den einen oder anderen Witz zum besten geben, mit erhobenem Zeigefinger seine Richtigkeit unterstreichen. Jetzt stand er hinter der Theke mit den vier Zapfhähnen. Er stützte beide Fäuste auf die verchromte Schankfläche. Über dem frischen Hemd trug er seinen karierten Pullunder, der den Bauch betonte. Er starrte geradeaus in das noch leere Lokal und sagte nur: „Servus, Tom.“

Tom strebte direkt zur Küche, wo leichtes Klappern zu vernehmen war. Barbara war soeben erst vom Einkaufen gekommen. Der offene, schwarze Mantel betonte ihre grandiose Oberweite und verschlankte ihre Hüften, die im Verlauf ihrer dreißigjährigen Karriere von der Politikwissenschaftlerin zur Kneipenköchin pompöse Ausmaße angenommen hatten.

Tom schätzte ihren leicht unterkühlten Esprit, der sich mit enormem Wissen paarte. Es kam oft vor, dass die alten Männer, die einstigen Rebellen und Geistesgrößen von 68 am Tresen stehend uneins waren. Etwa über die lebenswichtige Frage, wie die Schwester von Carl Friedrich Gauß hieß. Hieß sie Dorothee? Oder Leonore? Einige waren für Dorothee. Andere für Leonore. Einer meinte Anna. Bald schlug einer vor: „Da müssen wir die Barbara fragen.“

Dann wurde die Barbara aus der Küche herauskomplimentiert und an die Theke gebeten, und es wurde ihr die Frage vorgelegt. Es dauerte keine Sekunde bis Barbara mit sonorer Stimme und beinahe ungeduldig antwortete: „Gauß war Einzelkind. Der hatte keine Schwester. Seine Mutter hieß Dorothea.“ Leicht den Kopf schüttelnd über die lapidare Frage und die Unwissenheit der Jungs am Tresen, drehte sie sich um und marschierte wieder schnurstracks in ihre Küche. „Siehste, Dorothea,“ sagte dann einer. Und ein anderer: „Ja, aber die Mutter, der hatte keine Schwester.“

Tom stand mit einem Bein in der Küche. „Was gibt’s denn heute zu essen?“

„Ich muss erst noch die Karte machen.“

„Aber du hast doch bestimmt schon was fertig.“

„Also, Tom, bei mir gibt’s immer alles frisch. Das solltest du doch wissen.“

„Na ja, ich meine, falls du am Herd eine Flamme frei hast... ich würde nämlich gerne was machen.“

„Wie, was machen?“

„Na ja, was kochen.“

„Was kochen? Seit wann kannst du kochen? Und überhaupt! Wie stellst du dir das vor? Wenn gleich die Gäste und dann zwanzig Bestellungen auf einmal kommen, brauche ich alle Flammen.“

„Oder einen Topf?“

„Was für einen Topf?“

„Irgend einen großen Topf.“

„Und was willst du mit dem?“

„Steinsuppe machen.“

„Steinsuppe ma... ?“

Tom legte den Kopf schräg, machte sein verführerischstes Grübchen und nickte.

„Steinsuppe? Machst du Witze?“

„Nein, das ist klasse.“

„Kommt überhaupt nicht in Frage. Die Küche ist viel zu klein.“

Inzwischen hatte sich beim Markt herumgesprochen, dass der Tom heute in der Rheinpfalz kochen würde. Manche meinten, das sei doch nur ein Scherz. Die Barbara würde doch niemals jemand in ihre Küche lassen. Der Hugo von der Theaterbar, der alte Zocker, der selbst ganz gut kochen konnte, meinte: „Der Tom? Wenn der Tom kocht, dann komm ich auch.“

Die Kalisha von der BarCulina, auf der anderen Ecke, die üppige, schwarze Schönheit mit den hüftlangen Dreads, die die Gäste von der Rheinpfalz verköstigte, wenn dort der Hans zu vorgerückter Stunde verkündete: „naus jetza“, weil er das Lokal schließen und mit einer Dame in der im ersten Stock über der Wirtschaft befindlichen Wohnung zu Bett gehen wollte, fragte, was der Tom denn Besonderes kochen wolle. Und was das denn sei, die Steinsuppe. Man wisse es auch nicht so genau, wurde sie beschieden, aber der Tom habe einen Stein, mit dem man Suppe machen kann, die angeblich ganz vorzüglich sei. Anscheinend habe der Tom den Stein von einem irischen Mönch geschenkt bekommen, den er in Goa getroffen habe, als er vom Geheimdienst den Auftrag hatte, in Indien nach einem verschollenen Mädchen zu suchen. Als er nach monatelanger Suche alle seine Mittel aufgebraucht hatte und kaum noch hoffen konnte, seine Mission zu erfüllen, habe er das Mädchen völlig ausgezehrt am Strand in der Nähe von Anjuna gefunden. Dort, an der Sklavenküste der vormals portugiesischen Kolonie in Indien, habe der irische Mönch ihnen beiden das Leben gerettet, indem er ihnen das Geheimnis der Steinsuppe verraten habe. Und dann, als sie wieder bei Kräften waren, habe er Tom den Stein geschenkt, den er seither immer bei sich trage.

„Ich komme auch,“ sagte Kalisha leise.

Der Mann, der seinen Metzgereistand gerade abgeschlossen und mitgehört hatte, meinte, dass das doch wohl ein „Schmarrn“ sei. „Aber des schaug i mir o.“

In der Rheinpfalz waren inzwischen die ersten Gäste eingetroffen. Hans, der Wirt, zapfte Bier. Klaus, der Kellner, servierte es auf der Theke, auch wenn es nur eine Armlänge vom Zapfhahn entfernt war. Sieben Herren und eine Dame bedankten sich jeweils artig, denn sie hatten größtenteils eine gute Kinderstube genossen. Und wenn es jemanden gab, dem dies nicht vergönnt gewesen war, so tat er oder sie es zumindest den anderen nach. „Ein Bier, Herr Doktor.“ „Vielen Dank, lieber Klaus.“ „Herr Professor, eine Gerstenkaltschale.“ „Besten Dank, Herr Hofberichterstatter.“ Denn der Klaus hatte früher einmal Journalistik studiert, es aber vorgezogen ein freier Mann zu bleiben, wenngleich Freiheit ihren Preis hat.

Hans begrüßte den Mann, der beim Betreten des Lokals den gesamten Türrahmen füllte, mit „Gott zum Gruß, Herr Präsident,“ denn er war vom Steinmetz über den allseits bekannten Großbildhauer zum Leiter der Akademie der Bildenden Künste aufgestiegen. Der revanchierte sich mit „Habe die Ehre, Herr Obermusikdirektor,“ wenngleich der Hans kein staatlich geprüfter Kapellmeister, sondern Betriebswirtschaftler mit einigen Musiksemestern war, es aber verstand, in seinem Wirtshaus immer wieder großartige Live-Musik-Veranstaltungen zu organisieren.

Am Mitteltisch, vor dem Klavier, ließen sich die ersten Mitglieder des Vereins gegen Vereinsgründung nieder. Barbara, aus der Küche kommend, schritt zur Theke, um aus einer Kiste hinter derselben eine Flasche Rotwein zur Verfeinerung einer Soße zu holen und sich anzuschicken wieder in ihrem Reich im hinteren Teil der Lokalität zu verschwinden. Mit einer weißen Haube und weißer Schürze glich sie jetzt mehr einer Hebamme als einer Köchin. Der Gedanke an Geburtshilfe war dabei gar nicht so abwegig, verhalf sie doch manch köstlichem Mahl dazu, das Licht der Welt zu erblicken.

„Ach, ähm, Barbara, ich habe gehört, dass der Tom heute was kocht.“

Barbara hielt inne und wandte sich dem Frager zu. „Ich habe dem Tom schon gesagt, dass die Küche für so eine Aktion zu klein ist. Und erst mal muss ich meine Essen verkaufen.“

„Heißt das, dass der Tom nachher in die Küche darf?“

„Na ja, jetzt schaumer mal.“

„Schau mer mal, dann seng mas scho.“ Das war typisch Franz. Einer seiner Lieblingssprüche. Immerhin hatte er im Lauf der Zeit gelernt Geduld zu haben.

Barbara verschwand wieder in der Küche. Kurz darauf war ein Ping zu hören. Das erste Essen stand in der Durchreiche der Küchentür. Klaus eilte herbei, und zum Zeichen, dass es jetzt losgeht, deutete er ein Riff auf einer imaginären Gitarre an und machte sein Mick-Jagger-Gesicht, was ihm nicht schwer fiel, denn er sah dem Boss der Stones tatsächlich etwas ähnlich. Besonders, wenn er dann auch noch die Zunge heraus streckte.

Klaus servierte das Essen mit hanseatischem Charme. „Böfflamott, voilá.“ Das sagte er fast triumphierend, als habe Sankt Pauli gegen Bayern gewonnen.

Und wieder Ping.

Klaus holte das nächste Essen und servierte.

Und wieder Ping.

Der Tom saß auf einem Barhocker, an der Seite der Theke, die der Eingangstür zugewandt war, mit dem Rücken zur Tür, ein Bier vor sich. Er wirkte ganz entspannt, den Rücken leicht gekrümmt unter der schwarzen Jacke, den rechten Arm angewinkelt auf den Tresen gestützt. Das spärliche Licht erzeugte Schatten in den Furchen der Erfahrung, die sein Gesicht durchzogen. Doch die Augen waren hellwach.

Was denn nun mit seiner Suppe sei. Es seien einige Leute eigens wegen seiner Steinsuppe gekommen. Und tatsächlich. Das Lokal war ungewöhnlich voll, für die Tageszeit. Normalerweise kamen einige Leute zwischen sechs und acht, um zu Abend zu essen, dann wurde es etwas ruhiger, und gegen Mitternacht füllte sich das Lokal erst richtig. Dann kamen die Durstigen, die zuvor anderweitig beschäftigt waren.

„Wart mal ab,“ sagte er nur.

Es war gegen halbzehn, als Barbara aus der Küche kam. Sie ging zur Theke, blieb zwischen Tom und einem anderen Gast stehen. Hans stellte das Bierglas, das er soeben füllen wollte, unter dem Zapfhahn ab und brachte ein Schmunzeln zustande.

„Ja?“

„Gib mir ein Glas Wein.“

Das Schmunzeln ging in ein breites Grinsen über. Normalerweise machte Barbara bis elf Uhr abends Küche, dann räumte sie auf und machte sauber. Und zwischen halbeins und eins kam sie an den Tresen, um ein Glas Wein zu trinken, bevor sie nach Hause ging. Jetzt blickte sie vorwurfsvoll zu Tom, der zu ihrer Rechten auf dem Barhocker thronte. Der erwiderte ihren Blick lächelnd, mit Grübchen in der rechten Wange, sagte aber nichts. Hans reichte ihr den Wein. Sein Blick verriet, dass er mehr wusste, als er bereit war zu äußern.

„Bitte sehr.“

„Danke,“ erwiderte Barbara in einem Tonfall, der einerseits von ungebrochenem Selbstbewusstsein zeugte, andererseits ihren Ärger zum Ausdruck brachte.

„Ist irgendwas?“, fragte Hans scheinheilig.

„Die nerven mich dauernd mit dieser blöden Steinsuppe.“ Und dann zu Tom: „Was soll denn das eigentlich?“

Tom schmunzelte nur. Er war kein Freund überflüssiger Worte.

„Die Leute bestellen nichts mehr von der Karte, die wollen plötzlich alle Steinsuppe. Was soll denn das überhaupt sein? Und wie kommst du dazu, mir ins Handwerk zu pfuschen? Dich womöglich meiner Küche zu bemächtigen?“

Jetzt verstummte das Gemurmel an der Theke. Alle wandten sich Barbara zu. Sogar Nick war noch da, der sich normalerweise ein Essen aus Barbaras Küche zubereiten und einpacken ließ, um gegen acht das Lokal wieder zu verlassen und sein Mahl im Haus nebenan, wo er wohnte, zu sich zu nehmen.

„Entschuldige, Barbara, aber im Wintergarten haben sie erzählt, dass der Tom heute Steinsuppe macht, und da war ich einfach neugierig.“

„Da hast du’s, Tom! Wie kommst du dazu...?“

„Also, jetzt pass mal auf,“ sagte Tom, „ich habe nur gesagt, dass mir nach Steinsuppe sei, und als die Anderen nachhakten, habe ich gesagt, na ja, vielleicht stellt uns ja die Barbara einen Topf zu Verfügung. Mehr nicht. Und als ich kam, habe ich dich gefragt. Und du hast nein gesagt. Dass die jetzt alle gekommen sind und Steinsuppe wollen, dafür kann ich nichts.“

„Und was ist Steinsuppe?“

Toms rechte Hand glitt in die rechte Tasche seiner Jacke. Vorsichtig, als sei er sehr zerbrechlich, nahm er den flachen, weißen Stein heraus und legte ihn vor Barbara auf die Theke. Dann griff er mit der linken Hand in die linke Tasche seiner Jacke, nahm einen Zellophanbeutel und ein Päckchen Papier heraus, nahm ein Büschel Tabak aus dem Beutel, streute die schwarzen Krümel auf ein Papierblättchen, rollte dieses zusammen, benetzte die Gummierung der Länge nach mit der Zunge und steckte die Zigarette zwischen die Lippen.

Er sah sich suchend um. Hans gab ihm Feuer. Er nahm ein kräftigen Zug und blies den Rauch in die Luft.

„Ja und?“ Langsam wurde Barbara ungeduldig.

„Das ist mein Suppenstein.“

„Für mich sieht der aus, wie ein Kieselstein aus der Isar.“

„Das Aussehen ist nicht entscheidend.“

„Sondern was?“

„Was man damit macht.“

„Aha, und du machst damit Suppe?“ Barbaras logischer Instinkt schlug Alarm. Das konnte doch nicht sein. Einen Stein auskochen, um daraus Suppe zu machen. Sie war ja allerhand gewohnt von den Gästen. Selbstüberschätzungsbedingte Skurrilitäten, trunkenheitsbedingte Verrücktheiten, frustrationsbedingte Aggressionen, präkariatsbedingte Betrügereien...

„Ja. – Klar. – Das ist zunächst Physik.“

„Was heißt zunächst? Was kommt danach?“

„Metaphysik.“

„Ah, soll das eine metaphysische Suppe werden?

„Nein. – Nur Suppe.“

Sie nahm den Stein in die Hand, drehte ihn um, besah ihn von allen Seiten. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du aus diesem Stein eine schmackhafte Suppe machen kannst, indem du ihn einfach auskochst.“

„Von einfach habe ich ja auch nichts gesagt.“

„Also steckt irgendein Trick oder Witz dahinter.“

„Eigentlich nicht.“

„Sondern?“

„Solidarität.“

„Versteh ich nicht.“

„Man braucht einfach einen Topf mit kochendem Wasser. Dann legt man den Stein hinein...“

„Das gibt heißes Wasser, aber keine Suppe.“

„Der Mönch, der mir den Stein gegeben hat, hat das genau so gemacht. Der kam aus Irland. Und er hat es bis nach Indien geschafft, als ich ihn traf. Er hat Wasser gekocht, mit dem Stein. Dann nahm er einen Löffel und probierte davon und stellte fest, dass es schon ganz köstlich sei, jedoch noch etwas besser schmecke, wenn man ein bisschen Salz hinzu gäbe. Jemand ging Salz holen, er schüttete es hinein, rührte um, kostete wieder, stellte fest, dass die Suppe jetzt noch besser sei, aber es noch feiner wäre, wenn man Gemüse hinzu gäbe. Inzwischen waren immer mehr Leute aus der näheren Umgebung gekommen, um zu sehen, was der weiße Mann mit der seltsamen Kutte am Strand kocht. Und sie schickten die Töchter in die Hütten, um Gemüse zu holen. Das wurde dann ebenfalls in die Suppe gegeben. Der Mönch rührte wieder um, kostete, zeigte sich begeistert von der Steinsuppe, fügte aber leise an, dass ein Stück Fleisch zur absoluten Geschmacksvollendung führen würde. Die Tochter des Mannes, dem der rechte Arm fehlte, wurde geschickt, und diese brachte ein halbes Huhn, das vom Vortag wohl übrig geblieben war. Das Huhn kam jedenfalls auch in die Suppe, und der Mönch rührte wieder um und ließ die Suppe so lange kochen, bis das Fleisch des Huhns von den Knochen fiel. Dann kostete er wieder, sprach ein Gebet in Gälisch, faltete die Hände vor der Brust, wie man es in Indien tut, und dankte den Göttern und allen Anwesenden mit einem Namastée. Dann lud er alle ein, gemeinsam zu essen, und alle waren begeistert und wurden satt.“

„Dann war das aber eine Gemüsesuppe mit Fleischeinlage...“

„Das war Steinsuppe – mit ein paar Zutaten.“

Tom zupfte ein Büschel Tabak aus dem Zellophanbeutel, verteilte ihn auf einem Papierblättchen, rollte das Blättchen mit dem Tabak zusammen, benetzte die Gummierung des Blättchens mit der Zungenspitze, schloss dann das mit Tabak gefüllte Papierröllchen mit einem Fingerstrich, knipste die an den Enden überstehenden Tabakfäden mit den Nägeln von Daumen und Zeigefinger ab, steckte das Röllchen zwischen die Lippen, blickte jetzt auf und sah sich einem Dutzend auf ihn gerichteter Augenpaare gegenüber. Jemand gab ihm Feuer. Tom inhalierte den Rauch der verbrennenden Krümel und ließ ihn durch die Nase wieder austreten.

Es war ein fast andächtiger Moment, bis Hugo das Schweigen brach. „Und? - Machst du jetzt Suppe?“

„Kennst du den Unterschied zwischen Physik und Metaphysik?“

Barbara schwieg.

„Machst du Steinsuppe?“

„Nein,“ sagte der Tom.

*


AUF EINEN KAFFEE

von Fritz Delarue

Ich stehe am Taxistand am Siegestor. Die Pappeln der Leopoldstraße werfen schon lange Schatten. Über den Rand der Süddeutschen hinweg, bemerke ich eine sommerlich gekleidete Dame, die auf meinen Wagen zu stöckelt. Ich lasse die Zeitung sinken. Sie nimmt Blickkontakt auf. Ich nicke ihr freundlich zu. Sie öffnet die Wagentür hinten rechts und steigt ein. Über die rechte Schulter hinweg wünsche ich einen schönen, guten Abend.

Sie wünscht gleichfalls Guten Abend und sagt: Bringen Sie mich bitte nach Bogenhausen, in die Holbeinstraße.

Gern, sage ich, schalte den Taxameter ein und lasse den Benz langsam bis zu der Rot anzeigenden Ampel an der Akademiestraße vorrollen.

Gelb, Grün, Gas.

Oh, der Wagen zieht aber gut, sagt sie.

Ja, das stimmt, sage ich lächelnd.

Was ist denn das für einer?

Ein Sechszylinder.

Ach sooo, sagt sie gedehnt, als sei ihr jetzt alles klar. Aber es schwingt etwas Ungefähres in der Stimme mit. Nebenbei sucht sie etwas in ihrer Tasche, ich höre wie sich ihre Hand raschelnd durch den Tascheninhalt wühlt.

Manche Frauen sagen ja dann oft: Schrecklich, diese Taschen, nie findet man etwas. Sie aber, sagt nichts. Im Rückspiegel sehe ich ihren Blick auf ein winziges Spiegelchen geheftet, das sie in der linken Hand hält und in der rechten hat sie ein Pinselchen mit goldenem Griff, mit dem sie dunkelrotes Lipgloss aufträgt. Wirkt irgendwie erotisch, wie sie das macht. Mein Blick rast ständig zwischen Straße und Rückspiegel hin und her. Hübsche Lachfältchen in den Augenwinkeln. Dazu angeblondete Haare. Sieht aus wie Anfang Dreißig. Naja, aber in Wirklichkeit ist sie wahrscheinlich Ende Dreißig.

Darf ich Sie mal etwas fragen?

Aber natürlich.

Also kürzlich hatte ich einen Taxifahrer, der hat dauernd geredet. Und dann hat er mich so angesehen. Und dann sagte er, dass er öfter mit Frauen, die er befördert, mit nach oben geht. Da ist mir ganz anders geworden. Mir war richtig unheimlich. Was kann man denn da machen?

Also, sowas. Haben Sie sich die Taxinummer gemerkt?

Nein, ich war so durcheinander. Und dann hat er auch noch so gerochen.

Wie gerochen?

Naja, irgendwie ungewaschen... und nach Zwiebeln.

Wenn Sie ein ungutes Gefühl haben und sich belästigt fühlen, können Sie den Fahrer jederzeit anhalten lassen. So wie Sie das schildern, ist das unzumutbar.

Sie seufzt. Ach, ich weiß nicht.

Am besten lassen Sie beim nächsten Taxistand anhalten. Da haben Sie erstens Zeugen und zweitens gleich wieder ein Taxi. Und Sie müssen auch nicht den Ersten in der Reihe nehmen, wenn er Ihnen nicht zusagt. Und lassen Sie sich eine Quittung geben, auf der auch die Taxinummer verzeichnet ist. Dann können Sie sich bei der Taxizentrale entsprechend beschweren beziehungsweise bei der Polizei Anzeige erstatten.

Ach wirklich?

Wir überqueren die Isar. Beim Friedensengel ziehe ich den Wagen auf die linke Spur, um in die Möhlstraße einzubiegen.

Sie kennen sich aber gut aus, sagt sie.

Ja, da vorne darf man nicht links abbiegen. So fahren wir jetzt hier links, dann über die Siebertstraße in die Ismaninger und dann in die Holbein.

Toll, wie Sie das machen.

In der Holbeinstraße angekommen, sagt sie: Da an der nächsten Ecke können Sie anhalten.

Wunderbar, sage ich. Dann haben wir zwölf Euro zehn.

Hier, sagt sie. Reicht mir einen Zwanziger. Machen Sie dreizehn.

Ich gebe ihr sieben Euro zurück. Bedanke mich.

Sie lächelt. Legt den Kopf ein bisschen schräg. Möchten Sie auf einen Kaffee mit reinkommen?

*


KOMMUNIKATION IST ALLES

von Zeus Zwickenstein

Großer Aufruhr im Wald! Es geht das Gerücht um, der Bär habe eine Todesliste. Alle fragen sich, wer denn nun da drauf steht. Als erster nimmt der Hirsch allen Mut zusammen und geht zum Bären und fragt ihn: "Sag mal Bär, steh ich auch auf deiner Liste?"

"Ja," sagt der Bär, "auch dein Name steht auf der Liste."

Voller Angst dreht sich der Hirsch um und geht. Und wirklich, nach zwei Tagen wird der Hirsch tot aufgefunden.

Die Angst bei den Waldbewohnern steigt immer mehr und die Gerüchteküche um die Frage, wer denn nun auf der Liste stehe, brodelt.

Der Keiler ist der erste, dem der Geduldsfaden reißt und der den Bär aufsucht, um ihn zu fragen, ob er auch auf der Liste stehen würde.

"Ja", antwortet der Bär, "auch du stehst auf der Liste".

Verängstigt verabschiedet sich der Keiler vom Bären. Und auch ihn fand man nach zwei Tagen tot auf.

Nun bricht Panik bei den Waldbewohnern aus. Nur der Hase traut sich noch den Bären aufzusuchen.

"Bär, steh ich auch auf der Liste?"

"Ja, auch du stehst auf der Liste."

"Kannst du mich da streichen?"

"Ja klar, kein Problem."

*


ARKADIEN IST NIRGENDWO

von Eike-Wolfgang Kornhass

(Für Friederike, Laura, Mareile und mich)

I

Die Diagnose. Vor den Tränen ein Katarakt.

II

Ca. der glandula parotis li., pT3 pN2b pMx L1 VO Pn1 G2 R0. Totale Partidektomie links mit Faszialisresektion und -rekonstruktion mit Hypoglosso-faszialer Anostomose, selektive Neck dissection links, Platinkettenimplantat linkes Oberlid 1, 2g, laterale Kanthopexie links. Achteinhalb Stunden OP, auch für Operateure ganz schön anstrengend, aber der Mann versteht sein Handwerk, die Ohrspeicheldrüse ist raus, außer dem Faszialis alle wichtigen Nerven gerettet, dito gottlob das Kiefergelenk. Die Gesichtsmuskeln linksseitig funktionieren halt nicht mehr, die Wange für den Rest des Lebens taub, kaum Lidschlag des linken Auges, nachts Polyphem oder händisches Zudrücken wie beim Halbtoten. Alles hängt, Mimik starr, kein Lächeln mehr, dafür saubere Nähte, Versace wäre begeistert, Maßarbeit mit delikatem Material, fein Stöffchen, Maestro. Im Spiegel eine Fratze, das bist nicht mehr du, aber dieser Andere lebt, nochmal davongekommen. Groteskerweise fast euphorische Anwandlungen: das Untier wurde delogiert, ist im Abfall gelandet, du bist befreit, dafür ist die Deformation kein zu hoher Preis, Leben als höchstes Gut des Menschleins?

II

Die Beratung vor den Folgebehandlungen ist Bastonade, Kielholen, lebendig häuten, Streckbett, eiserne Jungfrau und Elektroschock zugleich. Wie gern ich Herrn P. die Fresse eingeschlagen hätte.

III

Sechs Wochen später geht's los. Radiatio mit 65 Gy, 32 mal, simultane Chemotherapie mit 5FU, Cisplatin, ff.Gifte 14 Tage stationär, unsere Standardprophylaxe, ohne die haben Sie kaum Chancen, bei uns auf K 21 sind Sie in besten Händen. Das Geräusch, mit dem es pumpt und fließt, in mich hineinfließt, ähnelt dem ruhigen Lauf eines Riva-Bootsmotors, Gardasee, Gabriele D'Annunzio mit Freunden an Bord, weiße Leinengewänder, Havannas, Champagner, auf Ihre Gesundheit, Commendatore! Bevor ich sie anschließe, sagt die Schwester, muß ich erst die Gummihandschuhe anziehen, möchte ja schließlich noch Kinder haben, gell? Zwanzig Stunden tagnächtlichläuft es in mich hinein, eine Woche lang, Pause, dann die zweite. Kotzen und Kacken, Kacken und Kotzen, taube oder schmerzende Glieder, schlurfender Gang, die linke Niere verkalkt, bedenkliche Werte, Blutdruck im Keller, Appetit vernichtet, Euphorie is nich mehr. Parallel dazu die tägliche Bequalung unten auf K 3, Herr K. bitte in Kabine 4, Herr K., das bin ich. Zahnschienen rein, grüne Hartschaum-Maske über das Gesicht, kaum Luft zum Atmen, Festschnallen auf dem Bestrahlungstisch, Klack und Klack, wenn's hier brennt, wie komme ich da raus, keine Bange, wir passen schon auf, sollen wir etwas Musik laufen lassen, das lenkt ab, Oldies, I can't get no satisafaction, natürlich nicht, kann schließlich kaum genug kriegen, die Ionenkanone über dir bewegt sich nahezu geräuschlos, alles heimtückisch schmerzfrei. Aber dann. Der blutig-offene Hals wird schon wieder abheilen, die täglich verschärfte Kiefersperre verhindert, daß du das Maul zu weit aufreißt und größere Brocken hineinschiebst, aber schlucken geht eh nicht mehr, kein Speichel, stattdessen Mukositis und Pilzbefall in der Mundhöhle, permanente Spülungen dagegen. Die künstliche Nahrung über den Schlauch im Bauch fließt prima und macht unabhängig gegenüber etwaigen kulinarischen Versuchungen, wozu auch verschiedene Geschmacksnoten, die eine ewig gleiche von der Astronautenkost reicht vollkommen, stinkt beim Stuhlgang höllisch und bei allen Partizipanten dieser Art von Speisung sozialistisch gleich. Schleim, Schleim, Schleim, Schleimwalzer, Schleimtango, Schleimrap. Spucken bis an die Grenze des Abkotzens. Damit lassen sich lästige Besucher prima in die Flucht speien. Verkümmerung zum vegetativ reagierenden Bündel, zum Einzeller, zur Amöbe ohne Libido, das Bewußtsein bestenfalls stand-by, alles wurscht, nachts tragen dich Lemuren ans Ufer des Styx, Charon winkt einladend, avber noch glimmt das blaue Flämmchen des Homunkulus, der durch frühkindliche Erinnerungsfetzen irrlichtert.

IV

Wieder zuhause. Die Dämmerung lichtet sich, unendlich langsam. Nachtmahre verblassen, hin und wieder leuchtet ein Gipfel oberhalb des Nebels. Uhren bleiben stehen, Lethargie und Fatigue als Dauergäste. Jede Bewegung führt zur Erschöpfung, trüber Blick, Verharren in der Matratzengruft über Wochen. Du bist statt beieinander nur noch auseinander. Aus der Plastiktüte vom Galgen "Cenaman" in die Magensonde, der halbe Tag geht damit rum, immer angehängt wie ein trauriger Köter. Du stinkst nach dem Zeug, deine Haut dünstet aus allen Poren. Die Aufnahmefähigkeit reicht gerade noch für Musik aus der Konserve, Verdis schwindsüchtige Traviata, Parsifal verheißt Erlösung, redemptio redemptori, Auferstehung in Liebehehre Klänge ins Ohr eines Troglodyten. Kaum Sozialkontakte, Besuche oder Anrufe tröstlich und lästig zugleich, Lesen fast unmöglich, das Auge tränt, der Mund immer schräger, Kiefer fortwährend enger, Artikulationsprobleme. Eßschwierigkeiten anhaltend, das Cisplatin hat den Appetit blockiert, massiver Gewichtsverlust; die Lymphflüssigkeit fließt schlecht ab, der Hals wird immer dicker, Marabu-Kopf, Beagle-Aug', Krokodilsgrinsen, seltsames Bestiarium. In Bad Reichenhall sind nur die Berge schön, die Reha-Klinik entläßt mich ungetröstet.

V

Rückkehr des Geistes, die Gankei wird durchblutet. Befehl an den Körper, sich zu straffen, aufrecht zu gehen, Haltung auch sichtbar anzunehmen, nicht nur im Kopf. Das Gleichgewicht kehrt zurück, ebenso innerlich. Kampf um Disziplin. Das Außen wieder zulassen. Ab und an Rückkehr des Lachens. Ein herzliches Willkommen dem Fräulein Libido, Sie waren arg lang auf Reisen! Ebenso freundlich gegrüßt seien die Doktores vom Josephinum, denen die Entfernung der Magensonde zu verdanken ist. Und jetzt Bilanz ziehen, neue Wege beschreiten: Aufräumen, alles verkaufen, auch inneren Ballast abwerfen. Raus aus nistenden Kleingeistereien und blockierenden Bedenklichkeiten, Spontaneität zurückgewinnen, reisen, noch ein Buch schreiben, Paradigmenwechsel auf ganzer Linie. Komplementär dazu fundamentale Abrechnung, was hast du aus deinem Leben gemacht, was in der Welt bewegt? Allzuwenig jedenfalls. Stattdessen bequemes Verharren im Gewohnten, spießiger Nützlichkeit verpflichtet, für den Aufbruch zu neuen Territorien zu feig, von Poetisierung der Welt nur bei Novalis gelesen, selber bloß gequatscht, vielmehr ein Arkadien beschworen, welches nicht einmal Winckelmann zu reklamieren sich getraut hätte. Derweil gratuliert die Umgebung zu deiner Veränderung, Riesenfortschritte gemacht, gut schaut er aus, ganz der Alte. Von wegen, vor Euch steht ein ganz Neuer. Krankheit als Chance zur Menschwerdung, durch Krankheit geadelt, per aspera ad astra, geläutert durch Leiderfahrung, im Purgatorium von Zytostatika und Ionen gestählt, mit sich ins Gericht gegangen, rücksichtslose Selbstkritik, bescheiden geworden, wen Gott straft, den liebt er, geradezu christliche Demut, Glorienschein, Halleluja, Eure Heiligkeit! Oder aber das Modell Trotzkopf, warum nicht gleich Prometheus: Bedecke deinen Himmel, Zeus, mein Schicksal ist eine Zumutung, Beleidigung, bin doch kein angstblökendes Gotteslamm, erst durch die Revolte erlangt der Mensch seine Würde, unterscheidet sich von der Kreatur, erschaffe dich selber, der Starke ist am mächtigsten allein, Kraft durch Wut, was für ein Prachtkerl ist er doch jetzt geworden! Gemach Junge, komm runter: weder verleiht der Morbus die höheren Weihen noch bringt die Rebellion notwendigerweise Halbgötter hervor. Der neue Herr K., wenn er diesen Status denn überhaupt beanspruchen darf, unterscheidet sich vom alten vielleicht bloß in Nuancen. Und sollte er sich verändert haben, dann hätte er das niemals allein geschafft.

 

Nur zusammen werden wir beide auch die Kraft haben, Angst zu bannen, die Angst vor dem Rezidiv.

(Erstveröffentlichung in TORSO Nummer 18, Winter 2009)

Eike-Eolfgang Kornhass (1940-2011). Historiker. Autor und Verleger in München. Im Diogenes-Fass ausgebaut. Wenig Restsüße. Im Abgang aber mild.

          Chapeau, mein Freund, Dein Lotsch

*

 

GELD UND LIEBE

von JFW LOTSCH

Einst sprach Frau E. „du kannst mich vögeln, wann immer du willst, auch wenn du spät nach Hause kommst, auch wenn ich schon schlafe“.

Das war sehr angenehm und unproblematisch. Frau E. war allzeit gut zu vögeln. Einmal abends, einmal morgens. Sie war auch immer bereit und öffnete sich, ihre feuchte Vagina schien sich nach ihm zu sehnen. Und sie machte immer so ein Geräusch, eine Art Jauchzen, das in ein Gurren mündete, wenn er in sie eindrang. Ein Geräusch, das er als lust- und liebevoll interpretierte. Der Herr war niemals sexuell frustriert, zu jener Zeit.

Nach zwei Jahren sprach Frau E. „du musst mich jetzt heiraten, sonst gibt’s keinen Sex mehr“.

Als der Angesprochene, vollkommen perplex, äußerte, dass er sich nicht erpressen lassen könne, und dass er der Ansicht sei, dass er, wenn er erpresst werde, vermutlich gar nicht geliebt werde und damit die Grundlage für eine Heirat entfiele, entgegnete Frau E., sie brauche Sicherheit.

Der Angesprochene hinwiederum zog es vor, auf Sex ohne Liebe zu verzichten und bat, bei dieser Gelegenheit, das geliehene Geld, nicht die ständigen Zuwendungen, nur das ausdrücklich Geliehene, das inzwischen, peu á peu, auf zwanzigtausend angewachsen war, zurückzugeben.

Hierauf sprach Frau E. „wieso? - dafür hast du doch gevögelt.“

So gingen beide ihrer Wege, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

*

 

LOVE AND PEACE UND ALL DIE HIPPIES

1967 — Der lange, harte Sommer der Liebe

von Hans Pfitzinger

Nachts kann es ganz schön kalt werden in San Francisco. Häufig zieht schon am frühen Abend der Nebel vom Meer her in die Stadt, erst durch den Golden Gate Park mit den riesigen Eukalyptus- und Redwoodbäumen, dann weiter durch die Haight Street und die umliegenden Straßen mit den hundert Jahre alten Holzhäusern hinüber zur Bucht. Die Gegend hatte Anfang der sechziger Jahre noch nicht mal einen Namen. Später nannte man sie einfach nach einer Straßenkreuzung: Haight/Ashbury.

Am 15. Oktober 1967 warteten die Beamten des San Francisco Police Department, bis zum Nebel die Dunkelheit kam, ehe sie in breiter Kette die Haight Street vom Park her aufrollten. Jeder, der nicht schnell genug abhauen konnte, wurde mit Gummiknüppeln zusammengeschlagen und in den mitfahrenden Polizeibus geschleppt. Um Mitternacht war der Spuk vorbei, die Haight Street lag wie ausgestorben da, keiner traute sich mehr aus den Häusern. Der Sommer der Liebe war zu Ende.

Der Sommer der Liebe fing am 16. April 1943 in Basel an. Dort, im pharmazeutischen Labor der Chemiefirma Sandoz, spürte erstmals ein Mensch die Wirkung von LSD: Dr. Albert Hofmann, der nach Arzneimitteln auf der Basis von Mutterkorn forschte, bekam versehentlich eine winzige Menge Lysergsäure-diäthylamid an eine Fingerkuppe. Danach wurde dem Doktor sehr seltsam zumute, und er beschloß, für heute mit der Arbeit Schluß zu machen. Auf dem Heimweg setzte die volle Dröhnung ein: Der erste LSD-Reisende war mit dem Fahrrad unterwegs.

Der Sommer der Liebe fing aber auch in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg an. Da fand sich ein Freundeskreis von Dichtern und Schriftstellern in New York und San Francisco, Leute, die noch keine Zeile veröffentlicht, aber viel geschrieben hatten, und dem amerikanischen Traum von der Erlösung durch materiellen Wohlstand äußerst skeptisch gegenüberstanden. Statt dessen suchten sie den Rausch und die Ekstase in ständigem Unterwegssein, wochenlangen Autofahrten und beim Jazz in den Nachtlubs von North Beach und Greenwich Village. Frühzeitig machte Marihuana die Runde und wurde für gut befunden. Später kamen noch Experimente mit den magischen Pilzen Mexikos und dein Peyote-Kaktus der Indianer hinzu. Darüber wurde viel diskutiert und geschrieben, und weil dieser Lebensstil so gar nichts mit den Zwängen der amerikanischen Gesellschaft zu tun haben wollte, wurden die Medien auf die Dichter aufmerksam. Ein Zeitungskolumnist in San Francisco kam auf den Namen Beatniks, und der blieb hängen. Manche aus der Gruppe wurden berühmt, andere starben früh, andere wurden vergessen. Zwei veröffentlichten Gedichte: Gary Snyder wurde zum poetisch-grünen Gewissen der Welt, Allen Ginsberg zum berühmtesten Dichter Amerikas (wohl auch, weil sein Gedichtband Howl 1956 vom US-Zoll beschlagnahmt wurde). Michael McClure schrieb erfolgreiche Theaterstücke. Zwei andere, William S. Burroughs und Jack Kerouac, schrieben vielbeachtete Romane. Und einer verbrachte drei Jahre im Gefängnis, weil er durch einen Roman seines Freundes Kerouac nicht nur in Literaturkreisen berühmt geworden war: An Neal Cassady wollte die Polizei offenbar ein Exempel statuieren. Der Kerl machte, was er wollte, und hatte auch noch jede Menge Spaß dabei.

Die Beatniks wohnten hauptsächlich im Stadtteil North Beach, wo sie eine Art Pariser Existentialismus auf amerikanisch zelebrierten. Als die Beat-Dichter von der Presse zum Kulturereignis hochgesehrieben wurden und immer mehr Trittbrettfahrer in North Beach rumhingen, wich ein Teil der alten Garde nach Süden aus. In der Gegend östlich des Golden Gate Parks, beiderseits der Haight Street, nicht weit von der State University, gab es einige Blocks mit wunderbar guterhaltenen Holzhäusern aus der Zeit um die Jahrhundertwende (Photographie: shelleyannleedahl). Und weil immer mehr schwarze Familien aus dem Fillmore-Ghetto dorthin zogen, waren die Mieten für riesige Sechs-Zimmer-Wohnungen auch für Studenten und arme Dichter erschwinglich: Schwarze in der Nachbarschaft, da fällt der Mietpreis. Bei den Künstlern und Freigeistern der Stadt sprach sich herum, daß es sich im ‹Haight› gut und billig leben ließ, mit frischer Luft und dem größten und schönsten Stadtpark der Westküste vor der Tür. Und dahinter rollte das Meer auf den Strand, der Pazifik, das Ende Amerikas.

Zu den Leuten, die ab 1964 in die Nachbarschaft zogen, gehörten eine Menge Musiker. Kein Wunder: In San Francisco konkurrierten vierhundert Bands und ungezählte Folkies um den Platz auf den Bühnen der Clubs und Caféhäuser. Einige der Musiker hatten die Zeichen der Zeit erkannt, und die Zeichen standen auf Folkrock. Bob Dylan selbst hatte das Signal gegeben, als er beim Newport Festival mit einer E-Gitarre vor das teilweise entsetzte Publikum getreten war. Folkmusik hat auf unverstärkten Instrumenten stattzufinden, hieß das ungesehriebene Gesetz, gegen das Dylan verstoßen hatte. Er trat eine Lawine los. Die Byrds in Los Angeles beschlossen, gleich eine ganze LP mit Dylan-Songs mit zwei E-Gitarren, Bass, Schlagzeug und vier Singstimmen aufzunehmen, im Stil der britischen ‹vocal groups› (zu denen auch die Beatles gehörten). Die Botschaft kam auch in San Francisco an.

Marty Balin wollte eine Folkrock-Band, mit ihm selbst als Leadsänger. Die Stimme hatte er, den Platz zum Auftreten baute er gerade um: Matrix hieß der Laden, eine Art Folk-Club, in dem er dann mit Spencer Dryden als Drummer, Paul Kantner und Jorma Kaukonen als Gitarristen und Jack Cassidy als Bassisten unter dem Bandnamen Jefferson Airplane auftrat. Später kam als Sängerin noch Grace Slick dazu, die neben Janis Joplin zu den weiblichen Stars der San Francisco-Szene gehören sollte. Ein anderer Musikerzirkel hing einen Straßenblock von der Haight Street entfernt im Haus mit der Nummer 710 Ashbury Street (Photographie links: Promotion) herum. Jerry Garcia, ein ruhiger Banjo-Spieler, der früher in verschiedenen Bluegrass-Bands gespielt hatte, war ein paar Monate vorher auf Gitarre, elektrisch, umgestiegen und wollte ebenfalls eine Band gründen. Mitmachen sollten Phil Lesh, ein Musikstudent, der Komposition belegt hatte und den E-Baß zupfte, ein Rockdrummer mit Namen Bill Kreutzman, ein milchgesichtiger Teenie namens Bob Weir, der gerade Rhythmusgitarre lernte, und Pigpen, ein Bluesmann in Nietenlederjacke, der singen konnte und Orgel und Mundharmonika spielte. Sie zogen alle in eines der geräumigsten Häuser im Viertel und nannten sich die Warlocks, bis sie in einem Buch über ägyptische Kunst den Satz fanden: In Zeiten der Dunkelheit tragen die dankbaren Toten das Licht. (Das ging ihnen schon deshalb auf, weil der geniale Chemiker Owsley Stanley, Hersteller des besten LSD in Amerika, auch noch Soundmann der Band war). Von da an einigten sie sich auf den Namen Grateful Dead. In ihrem Bestreben, nicht einfach Musik nachzuspielen, die schon da war, sondern mit allseitiger Improvisation auszuprobieren, was neu entstehen könnte, legten sie den Grundstein zum beständigsten aller Hippiestämme von San Francisco. Anfang der neunziger Jahre gehörten sie zu den reichsten Bands in Amerika und schafften es mit einer LP sogar in die Top Ten. Erst mit Jerry Garcias Tod im Sommer 1995 löste sich die Band auf.

1965 traf Garcia einen kraftstrotzenden Schriftsteller mit Namen Ken Kesey. Der hatte sich selbst zur Kultfigur stilisiert, nachdem er mit dem Psychiatrieroman Einer flog übers Kuckucksnest reich und berühmt geworden war. Kesey fuhr mit einer Gruppe von Clowns, Jongleuren, Musikern, Tänzern, Malern durch die Lande, alle in einem psychedelisch höchst grellfarben bemalten Bus (Photographie: Quelque Chose) Baujahr 1937, auf dem als Bestimmungsort oberhalb der Windschutzscheibe das Wort ‹Further› (Weiter) stand. Am Steuer saß Kerouacs alter Spezi Neal Cassady, und wo der Bus hielt, wurden Parties veranstaltet, die alle einen Zweck hatten: Den Acid-Test. Ken Kesey hatte bei den Recherchen für seinen Roman einen Arzt getroffen, der LSD in klinisch überwachten Tests zur Behandlung von sogenannten Geisteskranken einsetzte. Nach einem ersten Selbstversuch war Kesey fest davon überzeugt, daß die Menschheit wesentlich besser dran wäre, wenn jeder mal Albert Hofmanns Tropfen zu sich nehmen würde. Zu diesem Zweck verteilte Kesey landauf landab LSD, wozu er die Acid-Tests veranstaltete, ausufernde Bacchanale, bei denen die Grateful Dead unter dem Einfluß der Droge sechs Stunden lang mit elektrischen Tönen experimentierten und die berüchtigte Motorradgang Hell's Angels sich, vom LSD gezähmt, der allgemeinen Stimmung von Liebe und Frieden anschloß. Zu dieser Zeit war Hofmanns «Sorgenkind», wie er selbst seine Entdeckung nannte, keineswegs eine illegale Droge. Man konnte in Kalifornien für den Besitz eines einzigen Joints ins Gefängnis kommen, während bis zum Juni 1966 am Sunset Strip von Los Angeles und an jeder Ecke der Haight Street ausgezeichnetes LSD für 50 Pfennig pro Trip verkauft wurde. Das fand mit der Aufnahme ins Betäubungsmittelgesetz ein Ende, und daß das passierte, ist mit, wenn auch nicht allein, das Verdienst von Professor Timothy Leary.

Leary hatte, im Gefolge des britischen Wissenschaftlers und Autors Aldous Huxley (rechts, Photographie: huxley.net) Huxley und parallel zu Ken Kesey, die Überzeugung gewonnen, LSD sei ein wirksames Mittel gegen die Übel dieser Welt. Um die Verbreitung zu fördern, ließ Leary kein Interview aus, hielt Vorträge im ganzen Land und gründete in Milbrook im Staat New York ein Institut im Grünen, wo jeder, der wollte, in angenehmer Umgebung auf den Trip gehen konnte: LSD war Immer noch legal. Legal, illegal, scheißegal: Die Zahl der Leute, die in San Francisco auf den Trip gegangen und verändert wieder im Alltag gelandet waren, nahm zu. Wie viele es waren, wurde allen im Herbst 1966 beim ersten ‹Trips Festival› bewußt: Da spielten die Dead, die Airplane und Quicksilver Messenger Service in der Longshoreman Hall, und dreitausend Menschen feierten weniger die Bands als sich selbst bei einer gigantischen Tanzparty: Jeder ist ein Star, hieß die Botschaft, und die Zeiten, in denen Musik sitzend auf dem Stuhl empfangen wurde, waren erst mal vorbei. Dafür sorgte der Rock in Folkrock. Und auch für den Rock-Kommerz wurde das Trips-Festival Ausgangspunkt: Ein bis dato unbekannter Manager einer Theatertruppe, Bill Graham, kümmerte sich um die Organisation und darum, daß alle Eintritt bezahlten. Dabei lernte er auch Ken Kesey kennen: Der machte nämlich zum Entsetzen von Graham die Seitentüren des Saals auf und ließ jeden, der wollte, umsonst rein. Graham, ein unter Hippie-Musiker verschlagenes Geschäftsgenie, wurde später mit seinen beiden Hallen Fillmore West und Winterland zum größten Konzertveranstalter der Stadt (und der USA).

Langsam sprach es sich herum, daß in der Nähe des Golden Gate Park ein Klima der Toleranz herrschte, das mit dem Rest der USA wenig gemeinsam hatte. Den Auslöser zu dem, was dann als ‹Summer of Love› in die Geschichte einging, organisierten die Beat-Dichter für den 14. Januar 1967: Das erste ‹Human Be-In› (abgeleitet von den ‹Sit-Ins›, den Sitzprotesten der Bürgerrechtsbewegung). Das Treffen, im Untertitel «Eine Versammlung der Stämme» genannt, zog zwanzigtausend Menschen zum Polofeld im Golden Gate Park. Auf dem Podium: Die notorischen Bands, dazu Timothy Leary, Allen Ginsberg, Gary Snyder, Michael McClure und, als Vertreter der radikalen Anarchos aus Berkeley, Jerry Rubin. Der hatte sich an der University of California beim Free Speech Movement 1965 hervorgetan und stand für die Leute, die wütend, phantasievoll und vorwiegend gewaltfrei gegen den Krieg in Vietnam protestierten.

Ob die Hippies allgemein als politische Bewegung zu sehen waren, darüber ließ es sich schon damals trefflich streiten. Was sich im Lebensstil ausdrückte, hatte aber unstreitig politische Aspekte: Zusammenleben in Kommunen, mit Hanf, Pilzen, LSD, Meskalin zur Erweiterung des Bewußtseins; drastische Beschränkung des privaten Eigentums; Kreativität statt Konsum; Freiheit statt Autorität. Selbstbestimmte Stämme sorgen dafür, daß Regierung und herkömmliche Machtstrukturen überflüssig werden. Clinic Die Speerspitze der Bewegung, eine Art führerlose Kerntruppe der Blumenkinder, waren die Diggers. Bei aller scheinbaren Unbekümmertheit hatten sie eine radikal-utopische Grundhaltung. Sie organisierten das Gemeinschaftsleben in Haight/Ashbury so, als sei die Revolution bereits erfolgreich gelaufen: Jeden Tag verteilten sie umsonst Essen und Kleidung im Park, gründeten die (auch heute noch bestehende) Haight-Ashbury Free Clinic für kostenlose Gesundheitsfürsorge, dazu gab es gratis juristische Hilfe für alle Konflikte mit der Staatsmacht. Finanziert wurden diese Aktivitäten durch Benefizkonzerte, bei denen Spenden gesammelt wurden. Die Diggers verachteten die herkömmlichen politischen Institutionen — der Staat wurde, solange er sich nicht einmischte, einfach ignoriert. Finanzielle Unterstützung von den Behörden hätte Verrat bedeutet. Was sich zwischen 1964 und 1967 am Golden Gate Park abspielte, ist durchaus vergleichbar mit der Pariser Kommune oder den Gemeinschaften der Anarchosyndikalisten im Katalonien des Spanischen Bürgerkriegs. Daß in allen Fällen die Staatsmacht den Sieg davontrug, ändert nichts an der Gültigkeit des Strebens nach einer selbstbestimmten, humanitären Gesellschaft. Der «Summer of Love» war sicher nicht der letzte Versuch in diese Richtung.

Ganz im Sinne des Prinzips der Gewaltlosigkeit blieb auch am 14. Januar auf dem Polofeld alles friedlich — was ja zu beweisen war. Gary Snyder blies erst einmal auf einem Muschelhom und verband in seiner Lesung die Weisheit des Fernen Ostens mit dem Weltbild der Indianer, die Hell's Angels bewachten den Generator, der den Strom für die Musik machte, Tim Leary erklärte seine Devise «Tum on, tune in, drop out!» (Törn dich an, stimm dich ein, laß die alte Welt hinter dir), Ginsberg sang Oooommm und forderte alle Anwesenden am Schluß auf, doch noch etwas «Küchen-Yoga» zu betreiben, nach der Indlanerdevise: Hinterlaßt keine Spuren an einem Versammlungsort. Zum höchsten Erstaunen der bürgerlichen Presse verließ das «langhaarige Hippievolk» das Polofeld mustergültig aufgeräumt und vom Abfall befreit (oh, Love Parade, oh Tiergarten!).

Das Human Be-In war für viele der Anfang, für die alteingesessenen Hippies in der Gegend von Haight und Ashbury Street allerdings der Anfang vom Ende ihres Wohnviertels. Über einen Stadtteil mit 15.000 Einwohnern brachen in den folgenden Monaten, angeheizt durch Zeitungs- und Fernsehberichte über Drogen, freie Liebe und Rock'n'Roll («San Francisco Sound») 300.000 Menschen herein. (Das wäre in etwa vergleichbar mit dem Versuch, die Hälfte der Love Parade-Teilnehmer im Bezirk Prenzlauer Berg anzusiedeln.) Sie kamen aus allen Teilen der USA, vor allem junge Menschen, Kriegsdienstgegner, Teenager, die von zu Hause weggelaufen waren, Musiker, die ihren Teil vom Kuchen wollten, Sinnsucher, Neugierige und solche, die vom Drogenüberfluß, dem billigen Leben und den Möglichkeiten im Freiraum am Park angezogen worden waren. Im Radio dudelten Eric Burdon mit «San Francisco Nights» und Scott MacKenzie mit seinem sirupsüßen «If You Go To San Francisco»: Trag Blumen im Haar!

Aber auch einige Mitbegründer der Szene kamen endlich zum Zug: Die Jefferson Airplane. Sie hatten Im Sommer 1967 mit «Somebody to Love» und «White Rabbit» gleich zwei Songs in den Hitparaden. Nach ihrem starken Auftritt beim Monterey Pop-Festival im Juni wurden die Karten im Rock-Business neu gemischt. Die neuen Stars waren jetzt The Who, Jimi Hendrix, Janis Joplin und eben Jefferson Airplane. Die kauften sich teure Autos und eine Villa an der Fulton Street, auf der anderen Seite des Golden Gate Park.

Doch im ‹Haight› kam es, wie es kommen mußte: Die alte Gesellschaft schlug zurück. Mit der Illegalität von LSD hatte man jetzt noch ein Mittel, um die Exponenten der Szene zu kriminalisieren. Den Grateful Dead wurde allerdings eine Tüte Marihuana zum Verhängnis. Die stand Im Küchenregal, als im September eine Hausdurchsuchung stattfand. Ausgerechnet die beiden Nichtkiffer der Band, Gitarrist Bob Weir und der Sänger und Organist Ron «Pigpen» McKernan, wurden neben drei anderen Kommunebewohnern verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt. Jerry Garcia, der mit seiner damaligen Lebensgefährtin Mountain Girl gerade aus dem Park zurückkam, wurde von Nachbarn gewarnt und blieb weg, bis die Luft rein war.

Am 6. Oktober 1967 trugen die Diggers in einem Trauermarsch einen Sarg durch die Straße. Darin lag «Hippie, Sohn der Medien», und der wurde symbolisch im Park beigesetzt. Wiedergeboren werden sollte er als «Free Man».

Silicon Im Haight waren die Voraussetzungen nach dem Oktober 1967 für weitere gesellschaftliche Experimente nicht mehr gegeben. Die Hippie-Ureinwohner aus den frühen sechziger Jahren wichen aufs Land aus, nach Norden, in die Countys von Marin, Mendocino und Humboldt, oder nach Süden in die Gegend von San José. Und wenn sie nicht gestorben sind, bauen sie im Norden immer noch das legendäre Sinsemilla-Gras an. Im Süden dagegen befaßten sie sich eher mit der gerade aufregend neuen Computertechnik und erprobten in umgebauten Garagen ihr psychedelisch erweitertes Bewußtsein beim Programmieren von Software. Die Gegend, in der das passierte, hatte Anfang der siebziger Jahre noch nicht mal einen Namen. Später nannte man sie einfach nach dem chemischen Element Silizium, dem Grundbestandteil der Mikrochips: Silicon Valley.

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DANN LIEBE MICH

von Ilona Brennicke


So, wie sich die Wolken in den Strahlen der Sonne lösen,

Die Gipfel der Berge in den Sternenseen baden,

Der Frühling sich mit den Winden liebt,

Werde ich im neuen Sommer meinen Körper wärmen

Und mit den Morgengewittern erglühen.

Rote Nelken werden mich begleiten

Und neue Gedanken gebären.

Dann werden die Schwachen des Dschungels den Tiger reißen,

Die Wurzeln sich aus dem Dunkel der Erde befreien,

Die Sandkörner zu Felsen werden,

Die Worte im Saft des Mundes reifen.

Dann liebe mich wie das Meer,

Wenn es sich schäumend in die Erdschenkel ergießt

Und die Luft zur Lust des Windes werden lässt.

Suche mich in den ruhelosen Schaumkronen des Sturmes,

Die von mächtigen Wellenbergen zum Ufer getragen,

Schäumend die unzähligen Sandkörner umspülen.

Schleudere mich mit den schwindelnden Strudeln

Hinunter zum Grund der Lust,

Wälze mich im Rausch der Muscheln,

Bis der Sturm sich der Ozeane entledigt.

 

(Ilona Brennicke für Joachim Lotsch im Jahr 1999. Die Autorin ging nach dem Abitur zum Film und bezeichnet sich als gutgelaunte Kulturpessimistin. Sie lebt in Berlin und München.)

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BLUES

Hey, baby, / Hab ich gesagt / Und du hast mich fast skalpiert / Weil ich so‘n verdammter chauvi sei / Doch wenn du mich liebst / Ist alles okay.

Hey, baby, / Hab ich gesagt / Und da haut er mir eine rein / Denn er ist bei dir nicht dabei / Na ja wenn du mich liebst / Ist alles okay.

(jlo, Ende 1980er, Ode an Su, Gedenken an Elard, Schwabinger Sieben, nach Rückkehr von einer Reise)

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DIE SACHE MIT DER MUSE

Ich küss dich still / o weib / versagt doch dann / die stimme dir. / Wie lieb ich dich / o weib / so ätzend kannst du sein / und muse mir. (jlo)

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EIN HELD

Ein held / war peter, denn er konnte / sehr viel trinken / karten spielen / auf faschisten schimpfen / seine gerechtigkeit mit / fäusten erstreiten / sein weib war lange fort.

Ein held / war peter, denn er konnte / auf der occamstraße / seine gitarre zerschlagen / ohne zu singen. (jlo)

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CHARLOTTE R. LÄUFT ZU EXKREMENTALER HOCHFORM AUF

Wenn zwischen den Buchdeckeln die Vanillekipferl auseinander gezogen und mit dem Perlenrüssel die Welt derbleckt wird, dann ist das schwer in Ordnung und auch lustig. Und eine hübsche Muschi auszuschlecken, ist sozusagen Geschmackssache, kann den Beteiligten jedoch Spaß bereiten. Aber dass man Hygiene unbedingt klein schreiben und Eitriges sowie Fäkales und anderen Rotz und Schmutz essen muss, wie Charlotte R. das ihre Helen im sogenannten Roman tun lässt, ist einfach ekelhaft, unappetitlich und vermutlich sogar ungesund. Und nicht dennoch, sondern wohl deshalb, ist dieses Machwerk seit Erscheinen auf Platz eins der Bestsellerliste des SPIEGEL. Als Verleger muss man sich da wirklich Gedanken machen. (jlo)

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64 GRAD

Brief aus Venezuela (von jfw lotsch)

 

Wo ist Angelina, Rosalena, Clarybell? Wo ist León? Stimmt etwas nicht? Eine drei Zentimeter starke Eisenkette war um den Türgriff der mit gelber Farbe angestrichenen, nein bemalten Holzhütte geschlungen und an einem krummgeschlagenen Nagel seitlich am Pfosten eingehakt. Ein faustgroßes Messingschloß blitzte in der schon schräg stehenden Sonne. Symbol genug, daß hier geschlossen war, wenngleich es ein leichtes gewesen wäre, die Tür zu öffnen, hinter der das Bier verborgen war.

Ich nahm mein Taschenthermometer aus dem Sand, 64 Grad, Sandflöhe tummelten sich auf Bartolos bloßen Füßen. Mich aufrichtend, sah ich ihn fragend an. Sein weißes, kragenloses Hemd hatte er bis unter die Achseln aufgerollt, auf daß die Brise vom Meer seinen schwarzen Bauch kühle. Er legte den Kopf leicht zurück, sein Lächeln gelang nur schwach. No estàn. Sie sind nicht da. Der Kiosk ist geschlossen.

Hinter ihm breitete sich friedlich der menschenleere Strand aus. Das Rauschen der Palmen im Wind verschmolz mit dem Tosen der Brandung. Draußen an den Bojen dümpelten verlassen die Boote der Fischer, dienten nur den satten Pelikanen als Sitzplatz.

Roncito? Ein kleiner Rum-Punsch? Er nickte, und seine Augen blitzten vergnügt. Es ist Putsch. Wenn es dunkel wird, ab sieben, ist Ausgangssperre. Wir gingen hinüber zur Mündung, folgten dann dem trägen Fluß. Zwischen den Bananenstauden zerpflückten ein halbes Dutzend Geier einen Abfallhaufen. Sie lieben die Menschen für ihren Müll.

In Francos, von der Blütenpracht der Boganvilleas fast völlig überwucherter Hütte war das Fernsehgerät eingeschaltet. Der Präsident erklärte soeben, daß keine Gefahr bestünde, die Lage unter Kontrolle sei und die Familien, die Tote zu beklagen hätten, seines Mitgefühls gewiß sein dürften, 162 Menschenleben hätten die Kämpfe gefordert, die Demokratie sei erfolgreich verteidigt worden. Im Hintergrund waren die Salven von Maschinenwaffen zu hören.

Franco zeigte sich überzeugt, daß der Präsident nicht die Wahrheit spreche und das Volk nur bestehlen wolle, außerdem habe Maddalena, die beim Radio arbeitet, von 9.000 Toten gesprochen, und den besetzten Sender hätten die Regierungstruppen erst anläßlich der «Befreiung» zerschossen. Der Vater seines Großvaters sei noch Sklave gewesen, bei den Weißen, aber das ...

Hier unterbrach er sich. Venezuela ist ein reiches Land, Amigo! Wie zum Beweis sammelte er einige Parchitas auf, reife Passionsfrüchte, abgeworfen von der im Mangobaum rankenden Liane, um sie mir zum Abschied zu schenken.

Im Schatten der riesigen Caobas erreichten wir nach wenigen Minuten mein Haus, aus dem Radio drang Salsa-Rhythmus. Die Sonne neigte sich dem mit Kakteen bewachsenen Bergrücken zu, der das Flußtal begrenzt. Bartolo hatte auf der Küchenterasse Platz genommen, bescheiden sich den wackeligsten Stuhl aussuchend. Geradezu zärtlich öffnete er die Rumflasche, während ich die Früchte teilte und das süß-saure Mark in die Gläser gleiten ließ.

Ob er gleichfalls glaube, daß der Präsident oder die Politiker stehlen, wollte ich wissen. Lächelnd setzte er das Glas mit dem Punsch an die Lippen, nahm schlürfend einen großen Schluck, stellte es dann mit einer unendlich bedächtigen Geste zurück auf den grün lackierten Tisch.

Man erzähle sich, begann er zögernd, daß einst ein venezolanischer Politiker bei einem solchen in Nordamerika zu Gast gewesen sei. Der habe eine riesige Villa mit 20 Zimmern, mit Palmen, zwei Schwimmbädern und vielen Bediensteten besessen. Der Venezolaner habe seinen Wohlstand bewundert, und der Nordamerikaner habe stolz auf ein Kraftwerk in der Ferne gewiesen, sich auf den Rock geklopft und gesagt: 20 Prozent in meiner Tasche. Ein Jahr darauf habe der Venezolaner die Einladung erwidert, und sein Gast bewunderte dessen Eigentum. Er besaß eine riesige Villa mit 40 Zimmern, mit sechs palmenumstandenen Schwimmbädern und vielen Bediensteten. Dann habe er in die Ferne gewiesen und gefragt, ob sein Freund den mächtigen Staudamm in jenem Tal dort sehen könne. Als der verneinte, habe er sich auf den Rock geklopft und leise gesagt: nun — 100 Prozent in meiner Tasche.

Inzwischen war es dunkel geworden — und Bartolo durstig von seiner ungewohnt langen Rede. Ob wohl noch Bier vorhanden sei? 64 Schritte sind es bis zu meiner Hütte mit dem Kühlschrank. Man wird mich nicht sehen, meinte er lächelnd. Ich lasse mein Hemd hier.

 

(Erstveröffentlichung in Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 15) 

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ES WAR EINMAL EIN WEIB

von JFW LOTSCH

 

Es war einmal ein Weib,

das war so schön, so wunderschön,

und es sagte, dass sie mich liebe

so sehr, oh wie sehr und in alle Ewigkeit,

und dass ich so viel tue für sie,

die Frau, all die Jahre,

das werde sie mir nie vergessen;

und ich liebte sie auch, - über alles,

und wir bekamen ein wundervolles Kind;

und später mal wolle sie alles für mich tun,

damit ich genügend Zeit fände, nur noch zu schreiben;

und wir eröffneten eine Galerie,

und als sie das erste Mal selber Geld verdiente,

wollte sie nicht teilen,

sondern sie nahm alles was uns verband,

sogar unser Kind,

und zog mit einem mittellosen Gitarristen

in ein fremdes Haus,

wo sie alles verprasste bis nichts mehr da war

und der Musikus sie schlug,

da wachte sie auf,

doch es war zu spät,

die alte Liebe nicht mehr zu retten.

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CHICHIRIVICHE IM NOVEMBER

Brief aus Venezuela (von jfw lotsch)

 

Gestern, nachdem pünktlich die Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch herabgefallen war und der die Mücken vertreibende Wind aufkam, schlenderte Bartolo, scheinbar zufällig, heran. Wie gewöhnlich nur mit einer bis zu den Knien reichenden Hose bekleidet, war er kaum zu sehen vor dem Hintergrund des abendlichen Kakteenwaldes. Die graubraune Haut des Vierzigjährigen wirkte wie ein dunkler Anzug, und in seiner stolzen Haltung betrat er den Sandplatz vor meiner überdachten, mit Hängematten ausgerüsteten Schlafterrasse wie einen mitteleuropäischen Kongreßsaal. In seiner Linken trug er lässig einen Fisch, dessen Kopf fast den Boden berührte. Hola, sagte er lächelnd, ging ohne ein weiteres Wort zum Tisch vor der Küche, legte wie selbstverständlich sein Geschenk ab, nahm sich ein Bier und setzte sich. Ich nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn forschend an. Doch er schien tatsächlich nur wissen zu wollen, was ich den Tag über so gemacht gemacht habe.

Ich erzählte, daß ich oben in Caracas und auf dem Weg zu meinem Büro mal wieder im Verkehr steckengeblieben war. Merkwürdig erschien mir jedoch, daß dieses Mal die Straße übersäht war von Holzlatten und Steinen. Von den Berghängen, die die Stadt umgeben, wo die Armen in abertausenden winziger Hütten ihr kümmerliches Dasein fristen, waren rhythmische Sprechchöre, «Agua-Agua-Agua», zu vernehmen, gelegentlich überdeckt vom Jaulen der Polizeisirenen oder dem Bellen einer Maschinenpistole. Ja, sagte Bartolo, sie haben kein Wasser dort. Und vor den Hochhäusern und Glaspalästen plätschern die Springbrunnen! Diese demokratischen Diebe stopfen sich die Taschen voll. Vielleicht wäre es besser, wir hätten eine Diktatur! Fast hitzig, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Art zu sprechen, hatte er das gesagt. Dann schwieg er.

Er selbst hat Verwandte in den Barrios. Einmal, als eine seiner Schwestern Geburtstag hatte, waren wir zusammen dort. Einen großen Plastiksack hatte er gefüllt mit Mangos, Orangen, Zitronen, Yucca und Fisch, und dann waren wir mit meinen klapprigen Jeep hinaufgefahren. Manche, die von unserem Vorhaben erfahren hatten, hatten mir abgeraten. Für einen Weißen sei das Selbstmord, in die Ranchos zu gehen, wie die Armenviertel, etwas verächtlichtlich, auch genannt werden. Man würde mich überfallen, ausplündern, vielleicht umbringen.

Aber nichts dergleichen war geschehen, im Gegenteil. Dank Bartolo wurde ich herzlich begrüßt und in die Behausungen geführt. Mein Geschenk, eine Kiste Bier, wurde freudig entgegengenommen. Aus allen Richtungen kamen sie, bis die Hütte der Schwester überzuquellen schien. Die einen brachten Kaffee, andere kleine Maisfladen. Wir tranken das Bier aus den Flaschen, und ich hörte Geschichten und Schicksale, von denen noch zu erzählen sein wird in den nächsten Briefen. Nur soviel jetzt: Es leben Menschen dort, die ihre Eltern und Kinder lieben und von einer besseren Zukunft träumen.

Die Palmen rauschten im Wind. Der mit geöffnetem Maul mich anstarrende Zackenbarsch brach unser Schweigen. Ein schöner Fisch. Ja, sagte er karg und fügte dann an: Mero ist gut. Wie der Fang denn sonst gewesen sei, wollte ich wissen. Als habe er auf dieses Stichwort nur gewartet, zog er beide Augenbrauen hoch, beugte sich leicht vor und sah mich eindringlich an: Es wird wieder schlimmer, es war ein Mann im Netz, unter der hohen Klippe, mit einem Loch im Kopf, früher fielen sie aus dem Helikopter, weiter draußen, aber jetzt, an der Küste, das ist nicht gut für die Fischerei! Wir haben ihn hinausgebracht, zu den anderen, fügte er leise hinzu.

 

(Erstveröffentlichung in, Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 6)

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Als ich viereinhalb war

 

when I was four and a half

my dad gave a party at home

yeah - this one legged man

 

his patients where around

folks he saved from suffering

and they gave us bread butter and tea

that night - and chocolate and whisky

 

and when I came out of my room

dancing around in a pyjama

a big tall man took me on his arms

told me my daddy is the best

a little bit tipsy now

but it's all jazz

 

and the war is over

and I loved it

and the music went on

my dad gave me a kiss on the cheek

and I felt safe - on this strong black arm

 

and it was jazz

it was jazz

 

it was jazz

(jlo)

*